Während des Zweiten Weltkrieges kamen rund 580.000 zivile Zwangsarbeiter:innen aus beinahe allen Gebieten Europas auf das Gebiet des heutigen Österreichs, so auch nach Graz. Sie bildeten ein entscheidendes Rückgrat der NS-Kriegswirtschaft. Über den Einsatz dieser „Fremdarbeiter:innen“ führten die NS-Meldebehörden penibel Buch, registrierten die wesentlichen Daten zur Person und zu ihrem Aufenthalt im „Dritten Reich“. Die Meldekarteien zur NS-Zwangsarbeit in Graz – aufbewahrt im Grazer Stadtarchiv – konnten nun im Rahmen eines Forschungsprojektes des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung (BIK) und der Universität Graz erstmals in Form einer Datenbank erschlossen und ausgewertet werden.
Ein Drittel der Verschleppten waren Teenager
Die Einträge zu rund 15.300 Zwangsarbeiter:innen zeigen, dass die meisten aus Italien und Russland stammten, gefolgt von Frankreich, Kroatien und der Ukraine. Rund ein Drittel war zum Zeitpunkt ihrer Verschleppung jünger als 20 Jahre. Sie arbeiteten in der Grazer Rüstungsindustrie wie Steyr-Daimler-Puch, in der Landwirtschaft oder in privaten Haushalten. Ihre Unterbringung erfolgte in einem Netz von Lagern und lagerähnlichen Einrichtungen, das die gesamte Stadt überzog und nun im Detail dargestellt werden kann.
Mit Hilfe der Datenbank ist es erstmals möglich, das Schicksal der NS-Zwangsarbeiter:innen in Graz zu rekonstruieren und damit Licht in ein dunkles Kapitel der Zeitgeschichte zu bringen. Das Forschungsprojekt wurde am BIK in Kooperation mit dem Institut für Geschichte der Universität Graz und dem Graz Museum/Stadtarchiv Graz durchgeführt.
Das Leben eines Zwangsarbeiters
Einer der verschleppten Teenager war Ivan Asonov. Geboren 1914 in Maniv (UdSSR) kam er in einem Transport am 27. August 1942 nach Graz und wurde im Lager Liebenau in der Baracke 170 untergebracht. Am 3. September 1942 verließ er das Lager wieder. Solch kurze Aufenthalte in Liebenau waren häufig, da die Ankommenden von dort aus in ähnliche Einrichten überstellt wurden. Für 15 Monate verliert sich seine Spur, bis er am 10. Jänner 1944 in das Lager Murfeld II in die Baracke 10 aufgenommen wurde. Laut Meldekartei war seine Funktion im Lager Liebenau „Hilfsarbeiter“, im Lager Murfeld II „Chemiker“. Am 12. April 1944 wurde Anosov wieder in das Lager Liebenau überstellt, diesmal in die Baracke 101. Nach Kriegsende kehrte Anosov in die Sowjetunion zurück. In seinem persönlichen Wörterbuch finden sich Begriffe, die Asonov abgelegt hatte, um deutsche Vokabeln und Redewendungen für sich und andere auf Russisch zu übersetzen. Darunter sind: "gräßlich", "sich abfinden mit" oder "überstehen".
Schicksalen einen Namen geben
Barbara Stelzl-Marx, Leiterin des BIK und Professorin für europäische Zeitgeschichte der Universität Graz: „Die Omnipräsenz und gleichzeitige Unsichtbarkeit der zivilen Zwangsarbeiter:innen zeigt uns, wie wichtig es ist, Licht in dieses dunkle Kapitel der Geschichte zu bringen. Die Datenbank ist wie ein Kaleidoskop der NS-Zwangsarbeit in Graz. Mit ihr ist es uns nun gelungen, das Netzwerk der NS-Lager in Graz erstmals im Detail zu rekonstruieren und den ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern mit der Erfassung von über 15.000 Karteikarten ein Gesicht sowie einen Namen zu geben." Projektkoordinator Martin Sauerbrey-Almasy ergänzt: „Die Erschließung eines solch umfangreichen Bestands in einer großen Stadt ist im deutschsprachigen Raum bisher einzigartig. Die Tatsache, dass sich dieser Bestand bis heute erhalten hat, ist ein Glücksfall für die historische Forschung.“
Zwangsarbeit gehört in Graz zum Alltag
Die große Zahl an erfassten Personen ermöglicht es, erstmals ein genaues Bild über die Ausmaße von Zwangsarbeit in Graz zu geben. So werden Herkunft, Unterbringung, Bewegungen zwischen den Lagern und Verwendung der einzelnen Zwangsarbeiter:innen sichtbar. Menschen aus über 40 Nationen, die an über 700 Adressen untergebracht waren, wurden in rund 190 verschiedenen Berufen eingesetzt. Rund 40 Prozent aller Zwangsarbeiter:innen waren dabei Hilfsarbeiter:innen. Die Größe der Lager variierte stark. So hielten sich von 1941 bis 1945 fast zwei Drittel aller Zwangsarbeitenden zumindest einmal im Lager Liebenau – dem größten Lager in Graz – auf. Andere Unterkünfte beherbergten nur einzelne Personen für unterschiedlich lange Zeiträume. Allenfalls wird offensichtlich, wie sehr Zwangsarbeit zum Grazer Alltag gehörte.
Geburt und Tod im Lager
Aus der Datenbank geht hervor, dass mindestens 150 Kinder von Zwangsarbeiterinnen in Graz geboren wurden und ihre ersten Lebensjahre im Lager verbrachten. Manche wissen bis heute nicht, wer ihre Eltern waren. Auch 78 Todesfälle wurden in den Meldekarteien registriert. Insgesamt können nun genauere Rückschlüsse über das Leben in den Lagern gezogen werden. So waren beispielsweise die Baracken – je nach Nationalität – unterschiedlich belegt. Des Weiteren bekommt man Aufschluss über die tatsächlichen Belegzahlen, die Verweildauer und das Alter der Zwangsarbeiter:innen. Der Großteil der Zwangsarbeiter:innen war zwischen 15 und 40 Jahren alt.
Nicht vergessen, nicht wiederholen
Bei der Präsentation der Forschungsergebnisse am 13. März 2023 - 85 Jahre nach dem "Anschluss" - unterstrich Kulturstadtrat Günter Riegler: „Es ist wichtig, dass dieses dunkle Kapitel der Stadtgeschichte beleuchtet wird. Das sind wir nicht nur den Opfern schuldig, es ist auch unsere Verpflichtung aufzuklären und zu erinnern, um zu verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt.“