Wie wir von Krisen erzählen, beeinflusst unser individuelles und kollektives Handeln. Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Yvonne Völkl geht in einem neu gestarteten Grundlagenprojekt des österreichischen Wissenschaftsfonds FWF mit Unterstützung der Bevölkerung der Erzählfunktion des Coronavirus auf den Grund. Am Beispiel der Pandemie untersucht sie, wie literarische Erzählmuster das gesellschaftliche Miteinander beeinflussen und wie sich daraus sozialer Wandel ablesen lässt.
„Nous sommes en guerre“ – Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat dem Coronavirus in seiner TV-Ansprache zum ersten Lockdown den Krieg erklärt. Sechsmal wiederholte er das Wort vom Krieg in seiner Rede, aktivierte damit Bilder und Assoziationen in den Köpfen seiner Landsleute. In einer vernetzten Welt können sich nicht nur Viren innerhalb weniger Stunden verbreiten, auch Narrative gehen schnell viral. Sie erreichen ein Publikum über nationale Grenzen hinaus, wirken sinnstiftend und beeinflussen die Lebensrealität der Menschen.
Interpretationen dieser Corona-Erzählungen finden sich auch in kulturellen Produktionen aller Art wieder – in Romanen, Serien, Popsongs und Musikvideos. „Diese literarischen und audiovisuellen Produktionen lassen sich als ‚Corona Fictions‘ zusammenfassen“, erläutert Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Yvonne Völkl vom Institut für Romanistik der Universität Graz. „Corona Fictions zeigen, welche Auswirkungen etwa gesundheitspolitische Maßnahmen auf die Gesellschaft haben, wie diese sie wahrnimmt und bewertet.“
„Wir möchten wissen, welche Themen besonders dominant sind: Ist es die Angst vor dem Erkranken oder vor dem Sterben, sind es die Auswirkungen der Isolation oder die Schwierigkeiten mit Betreuungspflichten, ist es häusliche Gewalt?“, sagt Völkl. Eine weitere Forschungsfrage beschäftigt sich mit den Gemeinsamkeiten zu früheren „Pandemic Fictions“. „Uns interessiert, welche Teile der Metaerzählung reaktiviert werden. Wir untersuchen konzeptionelle und begriffliche Strukturen, wie zum Beispiel Kriegsmetaphern, die das Virus als Feind darstellen. Denn diese Metaphern stimulieren das kollektive Gedächtnis des Publikums.“ Das Forschungsprojekt geht dabei auch darauf ein, wie Corona Fictions zu individueller und kollektiver Resilienz beitragen können. Auch der Repräsentation von sozialen Gruppen und Minderheiten in den Erzählungen soll auf den Grund gegangen werden.
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