Stellen Sie sich vor, Sie haben Schmerzen in der Brust, Sehstörungen und eine Körperhälfte fühlt sich gelähmt an. Was tun Sie? Den Ärztenotdienst rufen? Gute Idee – für viele gehörlose Personen ist das aber unmöglich. Rund 10.000 gehörlose Personen leben laut der steirischen Ärztekammer aktuell in Österreich. Sie sind, wie auch hochgradig schwerhörige Menschen, auch in Notfällen meist auf visuelle Kommunikation angewiesen.
Hierzulande sollen diese Personen deshalb bei Bedarf Kontakt mit der Polizei aufnehmen – per SMS oder E-Mail. „Das ist in ohnehin beängstigenden Situationen nicht einfach“, weiß Anouschka Foltz, Sprachwissenschafterin am Institut für Anglistik der Universität Graz. Sie hat gemeinsam mit ihrem Kollegen Christopher Shank von der Bangor University, UK, kürzlich einen Artikel veröffentlicht, der zeigt, wie diese Kommunikation verbessert werden kann.
Studien in Wales
Die Forschenden haben sich in ihrem Artikel speziell auf die Situation Gehörloser in Wales, wo Foltz mehrere Jahre lehrte und forschte, fokussiert. „Die grundlegende Problematik ist aber fast überall gleich“ betont die Wissenschafterin. Betroffene stehen vor mehreren Hürden. In Wales ist wohl die größte, dass entsprechende DolmetscherInnen rar gesät sind und es dort keine institutionalisierte Ausbildung für diesen Beruf gibt. „Man darf nicht vergessen: die allermeisten Gehörlosen in Wales nutzen in ihrem täglichen Leben die British Sign Language (BSL) zur Kommunikation, nicht Englisch oder Walisisch. Sie können daher ihren Notfall oft nur unzureichend schriftlich in diesen Sprachen schildern und verstehen auch die Antworten nicht immer vollständig.“ Dieses Problem erleben Gehörlose nicht selten auch vor Ort in Ambulanzen oder Krankhäusern. „Die erschwerte Kommunikation führt oft zu Misstrauen und zusätzlicher Angst“, schildert Foltz die Erfahrungen Betroffener.
Empfehlungen der Forschenden
Wie kann man diese Situation verbessern? „Am wichtigsten wäre es“, schildert Foltz, „dass GebärdensprachendolmetscherInnen für medizinische und andere Notfälle rund um die Uhr kurzfristig zur Verfügung stehen.“ Dazu können DolmetscherInnen per Video zugeschaltet werden, bis ein/e DolmetscherIn am Notfallort oder Krankenhaus eintrifft. „Zudem sollte es eine in ganz Wales einheitliche British Sign Language-Notfallnummer geben, die rund um die Uhr per Videochat zu erreichen ist“, empfiehlt die Forscherin. „Langfristig ist es in Wales auch nötig, die Zahl der zertifizierten GebärdensprachendolmetscherInnen zu erhöhen“, erklärt Foltz.
Anouschka Foltz und Christopher Shank wurden in ihrer Arbeit vom walisischen Gesundheitsamt, das sich künftig stärker dieser Thematik annehmen möchte, finanziell unterstützt. Ihr „perspective Article“, der im Gegensatz zu einer Forschungspublikation stärker das persönliche Fazit sowie die Meinung der Forschenden zum Ausdruck bringt, ist im Open Access Journal „Frontiers in Communication“ erschienen: https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fcomm.2020.572855/full
Universität Graz einzigartig in ÖGS-Ausbildung
In Österreich ist derzeit die Universität Graz die einzige Hochschule, die eine akademische Ausbildung zum/zur DolmetscherIn für Österreichische Gebärdensprache (ÖGS) anbietet. Diesem Alleinstellungsmerkmal hat die Universität Graz voriges Jahr Rechnung getragen, indem die kostenlose Campustour-App (bis dahin erhältlich auf Deutsch und Englisch) auch in einer ÖGS-Variante, erstellt von Dolmetsch-Studierenden, veröffentlicht wurde. In Graz gibt es übrigens eine eigene Gehörlosen-Ambulanz.