Nürnberg, 20. November 1945: In einer zerbombten Stadt, aber einem weitgehend intakten Justizpalast mit angeschlossenem großem Gefängnis beginnt ein halbes Jahr nach Ende des Zweiten Weltkrieges ein Strafprozess. 24 Hauptkriegsverbrecher des NS-Regimes, darunter Martin Bormann, Karl Dönitz, Hermann Göring, Rudolf Heß, Wilhelm Keitel und Rudolf Speer, werden vor einem internationalen Militärgerichtshof angeklagt. Die vier alliierten Siegermächte – England, Frankreich, Russland und die USA – schaffen damit etwas bis dahin Undenkbares: Eine gesamte Regierungsmannschaft wird vor Gericht gestellt.
„Das hat es in der Form noch nie gegeben“, erzählt der Rechtshistoriker Martin Polaschek. „Zum ersten Mal wurden nicht nur die Täter vor Ort verfolgt, sondern jene, die Befehle gaben, die politische Entscheidungen trafen – also die Architekten des Systems.“ Mit dem sogenannten Londoner Statut wurde das juristische Fundament gelegt: Der Angriffskrieg, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen wurden als eigenständige Tatbestände definiert. Damit schufen die Alliierten erstmals ein überstaatliches Strafrecht – ein revolutionärer Schritt, der später zur Grundlage des Völkerstrafrechts wurde.
Zum ersten Mal wurden nicht nur die Täter vor Ort verfolgt, sondern auch die Architekten des Systems.
Trotz dieser wegweisenden Neuerungen blieb Kritik nicht aus. So monierten Beobachter:innen die einseitige Auswahl der Angeklagten und sprachen von „Siegerjustiz“. Verbrechen der Alliierten – etwa die Bombardierung ziviler Ziele wie in Dresden – waren kein Gegenstand des Prozesses. Das Gerichtsverfahren setzte jedenfalls Maßstäbe – juristisch, moralisch und mediengeschichtlich. Es wurde akribisch dokumentiert, Simultanübersetzer ermöglichten erstmals ein mehrsprachiges Verfahren, und tausende Beweisdokumente legten die Verbrechen des NS-Regimes offen. Es wurde unter Hochdruck gearbeitet, denn je frischer die Tat, desto eindrücklicher natürlich auch die Verfolgung. „Der Nürnberger Prozess ist eine zentrale zeithistorische Quelle“, so Polaschek. „Er brachte das Ausmaß der Gräueltaten des NS-Regimes erstmals strukturiert ans Licht.“ Die Anklageschrift, die Protokolle und weitere Dokumente sind in vier Sprachen in jeweils 42-Bänden für die Nachwelt erhalten.
Insgesamt 13 Prozesse von 1945 bis 1949
Der Hauptprozess von November 1945 bis Oktober 1946 wurde gegen 24 Angeklagte geführt. Er war in Europa der einzige vor einem Internationalen Militärgerichtshof und endete mit zwölf Todesurteilen, sieben Freiheitsstrafen und drei Freisprüchen.
In den Folgejahren fanden zwölf weitere Prozesse vor nationalen amerikanischen Tribunalen gegen Ärzte, Juristen, Unternehmer und SS-Offiziere statt. Doch mit Beginn des Kalten Krieges ebbte das Interesse ab. Viele Täter wurden nicht weiterverfolgt, andere fanden neue Funktionen – insbesondere, wenn ihr Wissen im aufkommenden Ost-West-Konflikt nützlich war.
Die Nürnberger Prozesse bleiben ein Meilenstein. Sie legten fest, dass sich niemand auf einen „Befehlsnotstand“ berufen kann, wenn er Verbrechen begeht – und dass auch Staatsmänner nicht über dem Recht stehen. Dieses Prinzip wirkt bis heute, etwa im Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. „Das Signal von Nürnberg war klar“, fasst Polaschek zusammen. „Auch der Befehlshaber ist verantwortlich – und niemand darf glauben, dass ihm seine Macht und sein damit verbundenes Handeln Straffreiheit garantiert.“