Die Geschichte des Volkes Israel ist von wechselnder Fremdherrschaft, Auseinandersetzungen, Leid und Identitätssuche geprägt. Wie diese einzelnen oder kollektiv erlittenen Traumata die Entstehung biblischer Texte beeinflusst haben könnten, ist ein relativ neuer, interdisziplinärer Ansatz in der Exegese-Forschung, also der Auslegung eben jener Schriften. Mit der Interpretation des Buches des Propheten Jesaja in diesem speziellen Zusammenhang beschäftigt sich Prof. Dr. Alphonso Groenewald von der Universität Pretoria in Südafrika. Er verbringt derzeit einen insgesamt sechswöchigen Aufenthalt an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Uni Graz, um neuen Input für seine Forschungen zu bekommen. Hier wird er allerdings hauptsächlich an einem Manuskript zu Auswirkungen traumatischer Erlebnisse in den Schriften von Micha, einem so genannten „kleineren Propheten“, arbeiten.
„Es ist eine Herausforderung sich diesen Texten wissenschaftlich zu nähern“, erklärt Groenewald. „Wenn es überhaupt historisch belegbare Personen hinter den Gestalten der Propheten gab, wie es für Jesaja beispielsweise ziemlich sicher zutrifft, so sind ihre überlieferten Texte oft erst Jahrzehnte nach ihrem Tod niedergeschrieben worden. Daher kann man eher von unbekannten Verfassern sprechen, die sich bewusst in der Tradition der Propheten bewegten.“ Im Fall von Jesaja wurde seine sozialkritische Haltung auf diese Weise aufrechterhalten – und zwar über eine Zeitspanne von rund 500 Jahren, über die sich die Entstehungsgeschichte des Buches hinzieht. Dass in diesem weiten zeitlichen Rahmen verschiedene Geschehnisse die Verfasser sowie deren Sichtweise auf den ursprünglichen Propheten und seine Botschaft prägten, liegt auf der Hand. Diese verschiedenen Einflüsse, die eben auch negativ, bedingt durch erlittene Traumata, sein können, machen es schwer, zu dem eigentlichen Ursprung der Texte vorzudringen. Zudem sind diese nicht immer chronologisch entstanden, weiß Groenewald: „Wir gehen davon aus, dass bestimmte Passagen sozusagen bewusst ‚eingeschoben‘ wurden, um den Anschein zu erwecken, dass sie früher geschrieben wurden als es tatsächlich der Fall war.“ Zu welchem Zweck das passierte und wie diese Praktiken Einfluss auf die gesamte Entstehungsgeschichte des Textes nahmen, ist Teil der Forschungsfragen der Exegese. „Wir bewegen uns dabei immer an Grenzen – sowohl an historischen, wissenschaftlichen, textlichen, aber auch an persönlichen. Denn auch unser Know-How ist limitiert. Gerade deshalb ist es wichtig, sich mit anderen auszutauschen und voneinander zu lernen“, ist Groenewald überzeugt. Eine deutsche Redensart fällt dem Südafrikaner dabei ein: „‘Über den Tellerrand blicken‘ ist ein wunderschönes sprachliches Beispiel für die berufliche und private Bereicherung, die man erfährt, wenn man aufhört, immer nur die eigene Suppe zu löffeln.“
Nach einem Vortrag in Linz wird Groenewald zum Abschluss seines Aufenthaltes in Österreich noch an den Ausseer Gesprächen teilnehmen, die heuer von 30. Juni bis 3. Juli in Bad Aussee stattfinden. Die Steiermark als Ort für seinen Aufenthalt hat der Theologe und Altorientalist übrigens aufgrund seiner perfekten Deutschkenntnisse und den seit Langem bestehenden Kontakten zu Univ.-Prof. Dr. Irmtraud Fischer vom Institut für Alttestamentliche Bibelwissenschaft ausgewählt. Das EUROSA-Projekt, in dessen Rahmen sein Aufenthalt stattfindet, ist Teil des Erasmus-Mundus-Stipendienprogramms und fördert die Mobilität von Forschenden, Studierenden sowie universitären MitarbeiterInnen zwischen Südafrika und Europa. Die Karl-Franzens-Universität hat ein Erasmusabkommen mit der Universität in Pretoria, weshalb Aufenthalte an dieser Universität gut organisierbar sind.