Nikolaus Reisinger ist Historiker. Und er hat sich auf die Geschichte des Eisenbahnwesens in Österreich spezialisiert. „Die Vorstellung einer Verbindung von Wien nach Triest Anfang des 19. Jahrhunderts glich einer Utopie. Wien, die Hauptstadt des Kaiserreiches verbinden, mit Triest, dem wichtigsten Hafen der Monarchie. Damals hat sich der Handel enorm entwickelt, die Industrie ist gewachsen, der Güteraustausch hat sich verdichtet – das alles hat man gespürt. Und dann stellt sich natürlich die Frage: Wie kommt man von Wien ans Meer?“, erzählt er.
Vor genau 200 Jahren, 1825, wurden erste Eisenbahnprojekte in Österreich gedanklich angestoßen. „Damals hatte Erzherzog Johann die Vision einer transeuropäischen Verbindung: von der Ostsee und Nordsee bis zur Adria – über Triest“, betont der Wissenschaftler. Johann von Österreich dachte sogar weiter: In seiner Vorstellung entstand das Bild, dass man über die Adria in den Orient reisen kann, bis hin zum Roten Meer, zum Indischen Ozean. „Damals gab es den Suezkanal noch gar nicht, der wurde ja erst 1869 eröffnet. Und trotzdem – 1825 hat er das schon visioniert“, sagt Reisinger.
Erzherzog Johann war nicht nur Kaiserbruder, sondern auch als Unternehmer im Eisenwesen aktiv engagiert. In Vordernberg bei Eisenerz besaß er zwei Radwerke und hatte ein echtes Interesse, die Monarchie international anzubinden. Besonders, um die zentralen Industrieräume miteinander zu verknüpfen. „Für ihn als Steirer, als ‚Ursteirer‘ quasi, war klar: Dieser steirische Raum im zentralen Alpenraum – östlich gelegen – muss aus wirtschaftlichen Interessen besser angebunden werden.“
Topographische Herausforderung
Doch mit dem einfachen Verlegen von Gleisen in den Süden war es nicht getan. Ganz im Gegenteil: Die große Herausforderung bestand darin eine Landschaft zu durchqueren, die voller topografischer und geologischer Schwierigkeiten war. „Der Semmering stellte dabei das größte Hindernis dar. Diese Gebirgspassage war von Anfang an der neuralgische Punkt der Strecke. Der Bau einer Eisenbahnlinie über den Semmering war technisch völlig neuartig. In den 1840er-Jahren gab es in Europa noch keine vergleichbare Bahn, die solche Höhenunterschiede überwinden musste“, klärt der Historiker auf.
Die Bauplanung der Südbahn begann unter der Leitung von Carl Ritter von Ghega, einem visionären Ingenieur, der zuvor ausgedehnte Reisen durch Europa und in die USA unternommen hatte, um moderne Bahntrassierungen zu studieren. Er brachte diese Kenntnisse nach Österreich und passte sie den alpinen Herausforderungen an. Sein Plan sah eine normalspurige Bahnlinie mit einer maximalen Steigung von 2,5 Prozent vor – das war damals revolutionär. Man hielt das zunächst für undurchführbar, zumal man noch keine Lokomotiven hatte, die solche Steigungen bewältigen konnten.
Dennoch wurde das Projekt politisch durchgesetzt. Die Arbeiten begannen 1848, mitten in einer Zeit großer Umbrüche. Innerhalb von sechs Jahren wurde die Strecke vollendet. Das war eine Meisterleistung der Ingenieurskunst und der Arbeitsorganisation. Tausende Arbeiter – viele davon aus der Region, aber auch aus anderen Teilen Europas – waren daran beteiligt.
Die Strecke sollte zudem die Monarchie im Inneren stabilisieren und gleichzeitig den Zugang zum Meer absichern. Damit verband sie das wirtschaftliche Zentrum Wien ab 1857 mit dem wichtigsten Hafen Triest. Das eröffnete neue Handelswege, insbesondere für den Export österreichischer Industrieprodukte, wie etwa Eisen.
Das Bahnfahren war geboren
Interessant ist auch, wie schnell nach dem Bau eine neue Mobilität entstand. Die Eisenbahn verkürzte die Reisezeiten drastisch. Wo man früher mehrere Tage mit der Postkutsche unterwegs war, benötigte man nun weniger als einen Tag. Das hatte enorme Auswirkungen auf den Personen- und Güterverkehr. Die Städte entlang der Strecke – wie Gloggnitz, Mürzzuschlag und Bruck an der Mur – entwickelten sich zu bedeutenden Verkehrsknotenpunkten. Außerdem förderte die Bahn den Tourismus. Regionen, die zuvor schwer zugänglich waren, wurden nun besucht. Besonders die Semmeringregion entwickelte sich zu einem beliebten Reiseziel. Es entstanden Hotels und Villen und neben der kaiserlichen Familie verbrachte auchdie Wiener Bourgeoisie dort ihre Sommerfrische.
Die Semmeringbahn war aber nicht nur ein technisches, sondern auch ein kulturelles Projekt. Sie wurde rasch zum Symbol für Fortschritt und Moderne. „Ihre Trassierung durch die Berglandschaft war ein Kunstwerk für sich. Viele der Viadukte und Tunnel wurden mit großem ästhetischem Anspruch errichtet. Diese Verbindung von Funktionalität und Gestaltung hat ihr den Ruf eingebracht, ein technisches und kulturelles Weltkulturerbe zu sein – was sie seit 1998 auch offiziell ist.“
Koralmtunnel: Ein wichtiges Puzzle-Stück
Historisch gesehen galt die Koralpe aber immer schon als „unüberwindbares Hindernis, das alle früheren Eisenbahnbauten umgehen mussten, was lange Bauzeiten und Umwege bedeutete“, weiß der Historiker. Die neue Tunnelverbindung, die diesen alpinen Raum effizient erschließt und ab 14 . Dezember 2025 für den Personenzugverkehr freigegeben ist, macht die gesamte Region rund um die Koralpe attraktiver und besser angebunden. Der Tunnel selbst ist mit etwa 33 Kilometern Länge (sechs Kilometer länger als der Semmering-Basistunnel) eines der größeren Tunnelbauprojekte in Europa und umfasst technisch sehr aufwendige Bauweisen mit Unterführungen und Brücken, was seine Bedeutung als zentrale Verkehrsachse unterstreicht.
Die Strecke macht es zudem interessant, in kurzer Zeit mehrere Orte zu besuchen. Beispielsweise für touristische Zielgruppen, die an einem Tag drei Orte anfahren möchten: Man kann Graz in Graz einen Kaffee trinken, in Klagenfurt Mittagessen und abends in Italien das Meer genießen.
Für Nikolaus Reisinger, der auch Vizestudiendekan an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät ist, hat die 45-Minuten-Verbindung zwischen den Landeshauptstädten Kärntens und der Steiermark auch einen wichtigen Nebeneffekt für die Universität Graz: „Sie wird erhebliche Auswirkungen auf die Pendlergewohnheiten und die regionale Attraktivität des Studienstandorts Graz haben. Kärntner Kolleginnen und Kollegen könnten zu Hause wohnen bleiben, morgens nach Graz fahren und abends wieder nach Hause zurückkehren. Gerade in Zeiten hoher Mietpreise und Lebenskosten eine willkommene Alternative zu einem Umzug nach Graz.“