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1945 formulierte Fritz Pinkuss, ein deutsch-jüdischer Emigrant und Rabbiner der neugegründeten Congregação Israelita Paulista in São Paulo/Brasilien, einen Aufruf „Vós sois os nossos testemunhas“ [Ihr seid unsere Zeugen] an die Überlebenden der Shoah. In seinen Predigten regte er die Überlebenden dazu an, das „Inferno“ in Worte zu fassen, es als Teil der „Geschichte der Welt“ zu dokumentieren und damit einen Grundstein zu legen, um ein „menschliches Zusammenleben“ wieder möglich zu machen. Vor dem Hintergrund seiner individuellen Erlebnisse von Ausgrenzung und Gewalt wie auch von Vertreibung und Flucht versuchte Pinkuss die Erfahrungen in seinen Predigten zu verarbeiten und eine persönliche wie gemeinschaftliche Aufarbeitung zu initiieren.
Der Wille Zeugnis abzulegen, die Suche nach einer Sinnhaftigkeit der Geschehnisse und die Ausformulierung von Lehren aus den Gewalt- und Migrationserfahrungen sind dabei wichtige Prozesse, die nicht nur nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust eine besondere Relevanz erhielten.
In Tagebüchern und Briefen, Berichten und Predigten, Bildern und Zeichnungen, Memoiren und Oral Testimonies dokumentierten Jüdinnen und Juden ihre spezifischen Erfahrungen von Gewalt und Migration. Insbesondere nach der Shoah traten Quellen, die die biographischen Erfahrungen dokumentierten, in einer neuen Quantität hervor und verwiesen auf die unterschiedlichen Schreibenden, deren Motive und Absichten. Diese Quellen dokumentierten die Geschichte, waren damit Teil des großen Ganzen und gleichsam persönliche Einblicke in die Aushandlungsprozesse zur Formierung von Erinnerung und Geschichte.
Auch vor dem Hintergrund der Debatten über das Ende der Zeitzeugenschaft zur Holocaust-Geschichte nimmt der Workshop die verschiedenen Akteur:innen und Quellen von Gewalt- und Migrationsprozessen in den Blick und fragt nach den biographischen Zugängen und individuellen Rückschlüssen aus den Erfahrungen sowie nach den Vorstellungen einer moralisch-gesellschaftlichen Verpflichtung gegenüber der Zeugenschaft. Der Workshop fokussiert dabei das 20. Jahrhundert mit seinen Gewalt- und Migrationserfahrungen und analysiert die biographischen Auseinandersetzungen mit, aber auch die gesellschaftlichen Einflüsse auf die lokale, nationale wie internationale Geschichte.
Der Workshop „Zeugen und Zeugnisse“ greift gesellschaftliche Prozesse zur Historisierung des Vergangenen auf und rückt die Fragen nach der Verantwortlichkeit
und Verpflichtung zur Dokumentation des Geschehenen wie auch die Bedeutung biographischer Quellen für diese Dokumentationsprozesse in den Vordergrund. Er verweist auf die Rolle und Motive des Einzelnen und nimmt gleichsam die Gesellschaft und ihre Beziehung zur eigenen Vergangenheit in den Blick.
Organisation: Björn Siegel (Kurt-David-Brühl Gastprofessor, CJS ) in Kooperation mit Andrea Sinn (Elon University/USA)