Im Zentrum der internationalen Tagung stehen die Werke der Kulturtheoretiker Walter Benjamin (1892–1940) und Roland Barthes (1915–1980). Während der Literaturwissenschaftler Benjamin in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts im Umkreis der in Deutschland begründeten Kritischen Theorie publizierte, war der französische Semiologe Barthes in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts maßgeblich an der Etablierung des Strukturalismus und an dessen Reformulierung im Poststrukturalismus beteiligt. Trotz der biografischen, historischen und theoretischen Distanz und ungeachtet unterschiedlicher Schreibweisen und Denkstile lassen sich – so die Ausgangsüberlegung der Tagung – vielfältige Berührungspunkte und Überschneidungen in den Forschungsinteressen und Arbeitsgebieten der beiden Intellektuellen ausmachen.
Beide Autoren haben den sogenannten material turn in den Geisteswissenschaften mit vorbereitet, der den unhintergehbaren Zusammenhang von Schreibbedingungen, Arbeitsmethoden und Werkstruktur reflektiert. Den studierten Literaturwissenschaftlern gemein ist die Expansion der genuin sprachwissenschaftlichen bzw. literaturwissenschaftlichen Analyse auf andere Bereiche, wie Mode, Architektur, bildende Kunst, Fotografie, Kino, Werbung, Oper etc., sowie die Berücksichtigung der medienhistorischen Fundierung der Literatur. Sowohl Barthes als auch Benjamin verweigerten sich der Vorstellung einer vermeintlichen Natürlichkeit und Universalität gesellschaftlicher Werte; sie fokussierten stattdessen die grundlegend geschichtliche, von Produktionsbedingungen und Ideologemen abgängige Signatur der Kultur und sahen in der radikal gegenwartsbezogenen Perspektivierung des eigenen Denkens, Forschens und Erinnerns einen analytischen Nutzen.
Als Arbeitsweise der Tagung ist geplant, Felder und Themen, zu denen Benjamin und Barthes gearbeitet haben – etwa zur Fotografie, zur Roman- und Dramentheorie, zur Autobiografie, zu den Autoren Brecht, Goethe, Kafka oder Proust –, nebeneinander zu stellen und zu konstellieren. Zudem sollen einzelne zentrale Texte bzw. Werkgruppen jeweils eines der beiden Denker – etwa zu Gedächtnis, Mythos, dem Zusammenhang von Literatur und Medien, zum Verhältnis von Struktur und Geschichte – textnahen (Re-)Lektüren unterzogen und in der Diskussion vor dem theoretischen Gerüst des jeweils anderen Theoretikers beleuchtet werden. Ein Ziel ist es dabei, alternativ zur eher geschlossenen und linearen Denkschulen- und Theoriegeschichtsschreibung eine produktiven Blickwechsel einzunehmen und die Figur des direkten Einflusses, der in der geistesgeschichtlichen Literatur- und Theoriegeschichtsschreibung fortlebt, durch den Begriff der „Zirkulation“ im Sinne einer „Theoretischen Komparatistik“ zu erweitern.
Die internationale Tagung am Institut für Germanistik der Karl-Franzens-Universität Graz wird in Kooperation mit Mitgliedern der International Walter Benjamin Society (IWBS), des Leibnitz-Zentrums für Literatur-und Kulturforschung Berlin (ZfL) und des Instituts für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin stattfinden.
Konzept: Anne-Kathrin Reulecke (Juni 2021)