Gastvortrag von Vera Faber (Wien)
Die russische Avantgarde formierte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts als subversive Strömung mit dem Ziel, die Kunst zu erneuern, ihre Grenzen zu durchbrechen und die tradierte Ästhetik zu zerstören. Dabei waren jedoch nicht nur die zu überwindenden Grenzen relevant, vielmehr korrelierte die Strömung in vielerlei Hinsicht auch selbst mit Grenzen und mit dem äußersten Rand. Die Grenze der Gegenständlichkeit überwand etwa Kazimir Malevič mit seinem suprematistischen Konzept der Abstraktion. Gleichermaßen abstrakt war auch die metalogische Zaum‘-Sprache der russischen Futuristen, die im Bereich der Literatur die Kontur zwischen Bewusstem und Unterbewusstem auflöste. Intermedialität diente der Überwindung von Gattungsgrenzen und wurde zB im Bereich der Wort-Bild-Kunst realisiert. Viele Arbeiten waren durch eine anti-künstlerische Ausrichtung geprägt, und bewegten sich aufgrund ihrer provokativen, dadaistischen oder anti-ästhetischen Elemente an einer geschmacklichen Grenze. Abgelöst von den Zentren, entstanden wichtige Phänomene der Avantgarde an den Rändern der russischen Einflusssphären, etwa in Vitebsk, aber auch im „russischen Berlin“. Der Kaukasus und die Ukraine wurden für viele KünstlerInnen nach der russischen Revolution zum internen Exil an der sowjetischen Peripherie, als dort die Arbeit, von politischen Eliten unbemerkt, noch uneingeschränkter möglich war. Zugleich manövrierten sich viele der in den Zentren verbliebenen KünstlerInnen moralisch ins Abseits, indem sie zum Instrument totalitärer Ideologien gerieten. Letztlich blieb aber auch die Avantgarde selbst nur eine Erscheinung am Rand, deren (Anti-)Ästhetik nämlich die ursprüngliche Zielgruppe – die breite Masse – nie erreichte.
Im Vortrag wird die russische Avantgarde, die – ganz im Bachtin‘schen Sinne – sehr wesentlich an Grenzen existierte, im Kontext ihrer Rand-Erscheinungen präsentiert, wobei neben russischen im Besonderen auch auf ukrainische Phänomene eingegangen werden wird.
Vera Faber studierte Slawistik / Russisch sowie Design und Neue Medien. Von 2012 bis 2014 OeAD-Auslandslektorin an der Universität Kiew / Ukraine. Seit 2013 Doktoratsstudium der Philosophie (Slawistik); seit 2014 Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (DOC) am Institut für Slawistik der Universität Wien.