Offenbarung und Kontrolle: Die soziale Dynamik des Privaten
Die Sorge um das „Private“ ist derzeit allgegenwärtig. Es finden sich eine Flut von Büchern, Artikeln und Beiträgen in öffentlichen Foren, die das „Ende der Privatheit“ konstatieren. Zu dem manchmal diffusen, manchmal durchaus manifesten Gefühl der Bedrohung tragen vorderhand die Entwicklungen der Informationstechnologie, vor allem das Bündel von Skandalen rund um die Datensicherheit bei. Das Internet durchdringt inzwischen fast alle gesellschaftlichen Lebensbereiche und verändert unsere alltäglichen Beziehungen und Kommunikationspraktiken. Auf diese Phänomene eines technischen Wandels gründet sich im Wesentlichen die alarmistische Diagnose, es gebe keine privaten Bereiche der Nicht-Sichtbarkeit mehr, alles sei durchlöchert, unser Verhalten, unsere Vorlieben – alles werde registriert, vermessen, benutzt, ohne dass wir genau wüssten wie und wozu. Technisch ist es kein Problem, Abermillionen von Informationen und privaten Lebensdaten zu speichern, nach Korrelationen zu durchforsten und diese zu verknüpfen – und staatliche und wirtschaftliche Akteure nutzen diese neuen Möglichkeiten auf immer exzessivere Weise.[1]
Im öffentlichen Diskurs, der sich um das Private als gefährdeter Sphäre dreht, wird vielfach unterstellt, wir wüssten mehr oder weniger, was auf dem Spiel steht, was wir verlieren und warum wir Privatheit schätzen sollten. Aber wissen wir das eigentlich wirklich noch so genau? Vollzieht sich hier nicht gerade ein tiefgreifender, technisch induzierter, kultureller Wandel?
Auf der einen Seite gibt es selbstverständlich nach wie vor sozial wirksame, historisch-kulturell gewachsenen Überzeugungen und Narrative, an denen wir uns in unserem Urteil, was legitime Ansprüche auf Privatheit sind, orientieren. Welche Ziele wir im Leben für wichtig erachten, wie wir unsere Freizeit verbringen, welchen Interessen wir nachgehen, mit wem wir wie zusammenleben, das, so meinen wir, gehe niemanden etwas an. Genauso sicher sind wir uns aber oft auch, die Grenzen des Privaten zu kennen: wir kritisieren Handlungen und Entscheidungen, die Folgen für Dritte oder die Gesellschaft als Ganze haben als mitnichten „privat“. Und weil unser Bewusstsein dafür sich erweitert, welche Facetten unseres Lebens beabsichtigte oder unbeabsichtigte Folgen für andere haben, scheint es auch so gesehen immer weniger „Privatsachen“ zu geben.[2]
In dieser Gemengelage wird – in Abgrenzung zu den vehementen „Privatheits-Verteidigern“ – die Schlussfolgerung gezogen, es sei, angesichts einer „de facto“-Aushöhlung des Privaten, was die technische Seite betrifft, auch gar nicht mehr wünschenswert (oder ohnehin nie wünschenswert gewesen), Privatheit zu schützen. Die Position der „post-privacy“ erinnert immerhin daran, dass der Ruf nach Schutz des Privaten auch verdächtig anmuten kann, da das Private immer auch repressive Seiten hatte und immer noch hat.[3] Der Wertschätzung des Privaten stand und steht weiterhin eine Kritik des Privaten gegenüber: sei es aus der Sicht der politischen Ökonomie, die den „privaten“ Charakter des Eigentums (und in der digitalen Welt insbesondere des geistigen Eigentums) anzweifelt, sei es aus feministischer Perspektive, die ein traditionell patriarchales Verständnis von Privatheit unter die Lupe nimmt, durch das Frauen und spezifische Tätigkeiten aus der Öffentlichkeit ausgeschlossen werden. In diese Tradition gehören auch neuere gouvernementalitätstheoretische Positionen, die das Narrativ der Privatheit unter die Lupe nehmen, weil es, entgegen des eigenen Anspruchs, nicht dem Schutz von Freiheiten diene, sondern lediglich die Art der Beherrschung verschoben habe – hin zu auf Praktiken der Selbstführung basierenden „Sichtbarkeitsregimen“.[4] Hier wird eine Verbindung zu den technischen Innovationen des digitalen Zeitalters hergestellt und die These vertreten, Überwachung und Kontrolle seien „post-panoptisch“ geworden.
Die Position der „post-privacy“ schließt sich zusammen mit der Diagnose, dass Personen unter veränderten technischen Bedingungen scheinbar auch freiwillig immer mehr über sich selbst preisgeben, dass sie neue Möglichkeiten der Selbstdarstellung und Selbstoffenbarung suchen und die sozialen Netzwerke des Internets dafür eine willkommene Bühne bieten. Dem unkontrollierten Zugriff auf Daten steht so gesehen der Exibitionismus der Nutzer gegenüber, die ein anderes Gefühl dafür haben, was man mit anderen teilen oder nicht teilen sollte. Aus dieser Perspektive überwiegt das Lob einer transparenten Gesellschaft, die weniger repressiv, weniger herrschaftsdurchsetzt sei.
Beiden Positionen – der selbstverständlichen Wertschätzung wie der unumwundenen Preisgabe des Privaten – entgeht in der Regel die feine Balance von Abschließung und Öffnung, von Offenbarung und Kontrolle, die das Private als soziale Praxis konstituiert. Um die Rekonstruktion und Begründung dieser Balance – in deskriptiver wie normativer Hinsicht – wird es im folgenden Beitrag gehen. Dabei wird zunächst die Frage gestellt, ob das Private eigentlich an und für sich gut und daher schützenswert ist, oder ob es das nur mit Blick auf einen anderen, funktionalen Bezug ist (I.). Wenn Privatheit etwas ist, was wir schätzen, weil und sofern es der Verwirklichung anderer Werte dient, gilt es genauer zu fragen, welche das sind (II.). Zentral für die Forderung nach Schutz des Privaten ist der Grundwert liberal-demokratischer Gesellschaften: individuelle Selbstbestimmung. Im Sinne ethischer Autonomie ist dies v.a. auf Handlungs- und Entscheidungsfreiheit – „wie möchte ich leben?“ – bezogen. Ideengeschichtlich betrachtet konstituiert ein liberales Verständnis eine eher individualistische Dimension von Privatheit, die prägend für unser normatives Selbstverständnis geworden ist. Hinter diese tritt eine andere, die Beziehungsdimension des Privaten, die Privatheit als soziale Praxis sichtbar werden lässt, tendenziell zurück. Um die spezifische soziale Dynamik des Privaten in den Blickpunkt zu rücken, wird es im III. Abschnitt darum gehen, die Bestimmung von Grenzen des Privaten als soziale Praxis der Begründung und Kritik sichtbar werden zu lassen. Im Anschluss daran nämlich lässt sich verdeutlichen, wo die Bedeutung des Privaten als gesellschaftlicher Wert liegt, welche Dimensionen des Wandel sozialer Praktiken durch technisch induzierten Veränderungen vorangetrieben werden und welche Gefährdungen sie möglicherweise beinhalten.
I. Worin besteht der Wert des Privaten?
Impulse zur Reflexion über den normativen Eigenwert des Privaten sind bislang stark von der US-amerikanischen Diskussion ausgegangen und stehen in engem Zusammenhang mit der Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court zu einem „right to privacy“. Die erste systematische Begründung eines solchen (ungeschriebenen) Verfassungsrechts auf Privatheit findet sich bei Samuel Warren und Luis Brandeis im Zusammenhang mit der Berichterstattung der Sensationspresse am Ende des 19. Jahrhunderts. Das „right to privacy“ als als „right to be let alone“ findet als übergeordnetes Rechtsprinzip in der amerikanischen Rechtsprechung von da an immer häufiger Anwendung. Rechtstheoretische Diskussionen haben sich dabei u.a. um die Frage gedreht, ob es sich um einen eigenständigen oder abgeleiteten Schutzanspruch handelt (so dass sich ein Recht auf Privatheit letztlich aus anderen Rechten wie Leben, Freiheit, Eigentum ableitet).[5]
Philosophische Versuche der Begründung des Wertes und Schutzes von Privatheit nehmen häufig ebenfalls von diesen grundlegenden Persönlichkeitsrechten ihren Ausgang und konzentrieren sich auf den Aspekt der Unzugänglichkeit der Person, so dass etwas als „privat“ dann gilt, wenn man selbst den Zugang (auch symbolischen Zugang) zu diesem „etwas“ kontrollieren kann.[6] In diesem Zusammenhang steht der Aspekt der Kontrolle darüber im Vordergrund, was andere Personen (aufgrund von Informationen, Daten) über einen wissen können. Dieser Aspekt steht in der Debatte um „informationelle Privatheit“ im Vordergrund.[7]
Die Grenzen des Privaten zu achten, kann Personen in ihrer grundsätzlichen Entscheidungsfreiheit schützen, darüber was sie enthüllen oder verhüllen möchten, selbst zu bestimmen. Individuelle Selbstbestimmung ist in liberal-demokratischen Gesellschaften ein Grundwert , der nicht nur rechtlich geschützt, sondern auch kulturell eingelebt ist, so dass sich daraus vielfältige ungeschriebene Verhaltenskodizes ergeben: wir wissen meistens, wann wir wegschauen, weghören sollen, weil uns das „nichts angeht“. Die so geübte Reserve schätzen wir letztlich nicht um ihrer selbst willen, sondern wegen des Freiraums, den sie der Person gewährt: sich unbeobachtet zu fühlen und daher mehr oder weniger unbefangen zu agieren. Privatheit ist so gesehen nicht an sich gut, sondern funktional bezogen auf den Schutz individueller Handlungs- und Entscheidungsfreiheit.
II. Bedeutungsdimensionen des Privaten
Der Anspruch auf Freiheit der Person, der rechtlich zu schützen, aber auch im gesellschaftlichen Umgang prinzipiell zu achten ist, gehört zu den Kernelementen der liberalen Tradition politischen Denkens. Die Freiheit der Verfügung über Eigentum bildet dabei den äußere Rahmen für die Konstitution einer Sphäre der privaten Autonomie in einem umfassenden Sinne. Neben der Freiheit der Verfügung über Sachen, die einer Person von Rechts wegen gehören (vor allem weil sie sie durch Arbeit zu ihrem Eigentum gemacht hat) gehört dazu auch die Freiheit der Verfügung über das eigene Denken und den eigenen Glauben, also die Meinungs-, Religions- und Bekenntnisfreiheit.[8] Dass es beim Schutz individueller Freiheitsrechte vor allem auch um ein Recht auf Individualität im Sinne einer Selbstentfaltung der Persönlichkeit geht, steht bei John Stuart Mill im Vordergrund. Er plädiert in seiner einflussreichen Schrift Über die Freiheit vehement für das Recht des Individuums, einen eigenen Lebensplan auszusuchen, der solange nicht einzugrenzen ist, wie er keinem anderen oder der Gesellschaft als ganzer schadet.[9] Auch der Kant’sche Grundsatz, nach dem Fragen der Glückseligkeit nicht verallgemeinerbar sind und es daher dem einzelnen zukommt, sie für sich zu beantworten, solange er sich im Rahmen allgemeingültiger Gesetze bewegt, gehört in diese Tradition.[10] Er bezieht sich auf die für das liberale Selbstverständnis konstitutive Freiheit vor moralischen Zudringlichkeiten sozialer Gemeinschaften. Diese Linie setzt sich im 20. Jahrhundert bei dem amerikanischen Gerechtigkeitstheoretiker John Rawls fort, wenn dieser moralische Personen dadurch charakterisiert, dass sie über eine Konzeption des Guten verfügen, die sie rational zu verfolgen und kritisch zu überprüfen in der Lage sind.[11]
Privatheit lässt sich in der liberalen Tradition als rechtlich und kulturell einzulösender Anspruch auf Schutz eines individuellen Selbstverhältnisses begreifen, das Handlungs- und Entscheidungsfreiheit ermöglicht. Dieses individuelle Selbstverhältnis findet seinen Ausdruck in einem ungezwungenen Sich-zu-sich-selbst-verhalten. Es ermöglicht, wie es Beate Rössler formuliert, sich die „praktische Frage“ zu stellen, die Frage danach, wer man sein und wie man leben möchte.[12]
Die Frage, wer man sein und wie man leben möchte, lässt sich freilich nicht in völliger Abgeschiedenheit beantworten. Selbsterkundung ist auch auf öffentliche Äußerung angewiesen. Nur dadurch, dass Individuen ihre Wertüberzeugungen und Vorstellungen des Guten auch öffentlich artikulieren, entsteht jene Art des ethischen Pluralismus, der liberale Gesellschaften kennzeichnet und vor dessen Hintergrund Individuen ihre Selbstvergewisserung über Visionen des gelungenen Lebens betreiben können.[13] Hieran wir deutlich, inwiefern die Konstitution von Privatheit ein soziales Phänomen ist: Privatheitsansprüche werden zwar gegen andere erhoben, aber eben immer in sozialen Bezügen, die die Voraussetzung dafür bilden, sich als autonomes Selbst, das selbständig entscheiden und handeln kann, zu entwickeln. Privatheit stellt sich aus dieser Perspektive weniger als rein abstrakte, negative Freiheit dar, deren Kern darin besteht, andere außen vor zu lassen, sondern eher als eine Art von sozialer Freiheit: ein Gefühl von Selbstbestimmtheit, das Personen mit Bezug auf die Verhaltenserwartungen und Handlungen anderer haben können.[14]
III. Privatheit als soziale Praxis
Häufig überwiegt sowohl in rechtstheoretischen als auch in philosophischen Debatten ein Konzept von Privatheit, das die Schutzansprüche von Individuen isoliert von ihren sozialen Bedingungen betrachtet. Es wird die Trennung zwischen dem einzelnen Individuum und der Öffentlichkeit, der Gesellschaft, dem Staat betont. Ein Verständnis von Privatheit als individuellem Recht lässt mitunter in den Hintergrund treten, dass Privatheit ein sozial bestimmter und geschützter Freiraum ist. Und dass seine Grenzen Ergebnis gesellschaftlicher Selbstverständigung sind. Das ‚Einschließen’ von etwas als „privat“ kann eine autonome individuelle Entscheidung sein, aber auch auf Anpassung an soziale Verhaltenserwartungen zurückgehen. Das Ergebnis ist dann öffentliche De-Thematisierung – sie kann sowohl repressiven als auch progressiven Charakter annehmen.[15]
Die Kontrolle darüber, was man in bestimmten sozialen Kontexten enthüllen bzw. verhüllen möchte, ist zentral, um ein ungezwungenes Selbstverhältnis zu entwickeln. Das lässt sich leicht anhand der Enttäuschung und Verstörung nachvollziehen, die wir empfinden, wenn Akteure sich darüber hinwegsetzen und wir erst nachträglich davon erfahren. Wir nehmen das, je nach Art der Beziehung, als mehr oder weniger existentiell erschütternden Vertrauensbruch auf.
Die konstitutive Bedeutung von Privatheit für soziale Beziehungen lässt sich auf sehr basaler Ebene festmachen. Ohne das Menschen etwas voneinander wissen, können sei keine sozialen Beziehungen eingehen. Ohne dass sie etwas voreinander verbergen ebenfalls nicht.[16] Das Zusammenwirken von Wissen und Nicht-Wissen, von Erscheinen und Verbergen ist ein integrales Element der Dynamik sozialer Beziehungen. Was Individuen in sozialen Kontexten jeweils über sich mitteilen, hängt freilich von der Art der Beziehung und sozialen Rollenerwartungen ab. Es ist etwas anderes, ob wir uns in einem Arzt/Patienten-, einem Arbeits- oder Freundschaftsverhältnis befinden.[17] In bestimmten sozialen Beziehungen teilen wir sehr intime Dinge über uns mit (wie soll mir der Arzt helfen, ohne das ich mich auf detaillierte Schilderungen meiner Körperfunktionen einlasse, wie der Bankangestellte einen Kredit empfehlen, ohne dass ich mich dazu bereit finden würde, meine wirtschaftlichen Verhältnisse darzulegen?), ohne dass die Beziehung insgesamt ihren professions-vermittelten Charakter verlieren würde. Freundschaftsbeziehungen unterscheiden sich davon nicht durch die Detailgenauigkeit von Einzelinformationen, sondern dadurch, dass hier nicht nur ein Teil der Person von Bedeutung ist, sondern die (wertgeschätzte) Person als Ganze.
Das moderne Leben beruht zu sehr großen Teilen auf einem Vertrauen auf Diskretion. Dabei geht es um sozialisatorisch erlernte, geschriebene und ungeschriebene Regeln des sozialen Umgangs, differenzierte Erwartungen des Takts und der Reserve. In diesem Sinne vermerkt Georg Simmel, das moderne Leben sei „in einem viel weiteren als dem ökonomischen Sinne ‚Kreditwirtschaft’“.[18] Das Geheimnis habe als bewusstes Verbergen in der Gestaltung verschiedener Beziehungsverhältnisse durchaus positive Bedeutung, weil es „unpersönliche Energien“ freisetze, eine „Objektivierung“, die soziale Differenzierung ermöglicht.[19] Der soziale Verkehr der Menschen ist eingebettet in einen Rahmen, der ihr Verhalten entlang differenzierter rollenspezifischer Verhaltenserwartungen normiert. Diese Verhaltenserwartungen können beschränkend für individuelle Autonomie wirken, aber sie sind zugleich auch der ermöglichende Hintergrund, ohne den diese sich andererseits gar nicht entwickeln kann.
Erwartungen des Schutzes von Privatheit sind, so lässt sich zusammenfassend festhalten, abhängig von gesellschaftlich bestimmten Handlungskontexten und den sie konstituierenden Verhaltensnormen. Gegenwärtig entstehen durch den Wandel technischer Infrastruktur neue Kommunikationsräume, die die kommunikativen Beziehungen in verschiedenen Handlungssphären in noch nicht überschaubarer Weise verändern. Das Internet erscheint zunächst als ein grenzenloser Kommunikationsraum, über den die Individuen freilich nur bedingt Kontrolle haben und dessen Integrität nicht immer hinreichend gesichert ist. Sie schätzen diesen neuen Kommunikationsraum gleichwohl als neues Medium der Selbstdarstellung und –erprobung. In computer-vermittelter Kommunikation lassen sich Interaktionspartner mitunter auf intimere Fragen und selbstenthüllende Äußerungen ein als Individuen in Face-to-face-Interaktionen .[20] Studien weisen darauf hin, dass Internet-Interaktionen mit minimierten Rollenerwartungen verbunden werden, die eine Suggestion von Authentizität bewirken. Social media sind vielfach so gestaltet, dass sie Nutzern scheinbar die Möglichkeit geben, soziale Zugänglichkeit („Audiences“) zu kontrollieren und zu entscheiden, welche Inhalte mit wem geteilt werden. Das kommt der Suche nach Möglichkeiten, in beschränkte und geschützte Kommunikationen mit anderen einzutreten, entgegen. Die subjektive, psychologische Erfahrung von Authentizität bricht sich allerdings an objektiven Fakten: solange Daten, skaliert, ge“mint“ und verkauft werden, erleben Nutzer sozialer Medien de facto einen Kontrollverlust. Solange informationelle Privatheit im Netz nicht gesichert ist, bleiben private Räume hier letztlich eine Illusion. Wie Nutzer darauf regieren werden und welche Auswirkungen solche Erfahrungen auf gesellschaftliche Interaktionen und Verhaltenserwartungen in der analogen Welt haben, bleibt eine spannende Frage.
[1] Vgl. Geiselberger, H./Moorstedt, T. (Hg.): Big Data. Das neue Versprechen der Allwissenheit, Berlin 2013.
[2] Als Beispiel mögen die öffentlichen Diskussionen um eine Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit reflektierende Lebensweise gelten.
[3] Christian Heller: Post-Privacy. Prima Leben ohne Privatsphäre, München 2011.
[4] Vgl. Bröckling, U./Krassmann, S./Lemke, T.: Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M. 2000 sowie Sonderheft „Sichtbarkeitsregime“, Leviathan 25/2010.
[5] Klassisch: Judith J. Thompson: „The Right to Privacy“, in: Philosophy and Public Affairs, Vol. 4, No. 4, 1975, 295-314. Im deutschen Rechtsdiskurs werden ähnliche Fragen vor dem Hintergrund des allgemeinen Persönlichkeitsrechts diskutiert. In seinem richtungsweisenden Volkszählungsurteil hat das BVerfG daraus 1983 ein „Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung“ abgeleitet. Diese Rechtsprechung setzt sich fort in dem neu geschaffenen Grundrecht auf „Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“ (vgl. BVerfG, Pressemitteilung Nr. 22, 27.2.2008).
[6] Vgl. etwa Ruth Gavison: „Privacy and the Limits of Law“, in: Yale Law Journal No.89, 1980, 421-471, Amy Allen: Uneasy Access. Privacy for Women in a Free Society, Totowa 1988 sowie u.a. Adam Moore: „Defining Privacy,“ in: Journal of Social Philosophy, No. 39, No.3 2008, 411-428 und Daniel J. Solove: A Taxonomy of Privacy, in: University of Pennsylvania Law Review, Vol. 154, No.3, 2006, 477-564.
[7] Beate Rössler: Der Wert des Privaten, Frankfurt a.M. 2001, 201ff.
[8] Vgl. John Locke (1690): Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt a.M. 1977: Kap. 5.
[9] Vgl. John St. Mill (1859): Über die Freiheit, Stuttgart 1988: Kap. 3. Als Fortsetzung des Mill’schen Anspruchs auf Individualität lässt sich die Forderung nach experimenteller Selbsterprobung bei Richard Rorty interpretieren (vgl. Richard Rorty: Kontingenz, Ironie, Solidarität, Frankfurt a.M.1989).
[10] Kant [1793]: “Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“, in: ders., Schriften zur Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1985, 137.
[11] John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 1979, 433ff.; ders., Die Idee des politischen Liberalismus, Frankfurt a.M. 1994, 364ff..
[12] Vgl. Rössler, Der Wert des Privaten, a.a.O., 124.
[13] Axel Honneth: Das Recht der Freiheit, Berlin 2011, 139.
[14] Iris M.Young: Global Challenges. War, Self-Determination and Responsibility for Justice, Cambridge 2007, 178f.
[15] Homosexualität etwa galt lange Zeit als „Privatsache“, in dem Sinne, dass Personen des öffentlichen Lebens (oder auch Angehörigen des Militärs) angesonnen wurde (und teilweise immer noch wird), diesen Aspekt ihres Lebens möglichst zu verhüllen (vgl. Jean Cohen: Regulating Intimacy, Chap. 2: „Is there a duty of privacy? Law, Sexual Orientation and the Dilemmas of Difference“, Princeton/Oxford 2002.
[16] Vgl. Georg Simmel: Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft, in: ders., Soziologie, Gesamtausgabe Bd.11, Frankfurt a.M. 2013, 383. Er formuliert: „Das „Verbergen von Wirklichkeiten ist eine der größten Errungenschaften der Menschheit“ (ebd., 406).
[17] Vgl. Beate Rössler/Dorota Mokrosinska: “Privacy and Social Interaction”, in: Philosophy and Social Criticism 39 (8) 2013, 771-791.
[18] Simmel, a.a.O..,389.
[19] Simmel, a.a.O., 392f.
[20] Vgl. Sabine Trepte/ Leonard Reinicke: The Social Web as a shelter for Privacy and Authentic Living, in: dies., (Hg.), Privacy Online, Perspectives on Privacy and Self-Disclosure in the Social Web, Heidelberg u.a. 2011, 64.