Internationales Symposion anlässlich des 60. Geburtstages von Dieter A. Binder (Universität Graz/Andrássy Universität Budapest)
Biographieforschungen und die von ihr in den Blick genommenen Spannungsfelder von Individuum und Gesellschaft zählen aktuell wohl zu den produktivsten Themen der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften, dies gilt besonders auch für die Neuere und die Zeitgeschichte. Zeitgeschichtliche Zugänge waren lange Zeit einem stark politikgeschichtlichen Fokus verpflichtet und wendeten sich erst seit den 1970er Jahren sozial- und alltagsgeschichtlichen Ansätzen und unter diesen neuen Gesichtspunkten verstärkt auch dem Subjekt und dem Subjektiven in der Geschichte zu. Schon die frühe sozialhistorische Biographieforschung hat dabei die Auffassung zurückgewiesen, es ginge bei der Betrachtung individueller Lebensverläufe um die Beschreibung einer teleologischen Entwicklung eines Menschen oder darum, eine Biographie möglichst „vollständig“ oder „lückenlos“ zu rekonstruieren. Vielmehr rückten lebensgeschichtliche Prozesse der Internalisierung der sozialen Welt im Individuum ins Blickfeld. Aktuelle kultur- und gesellschaftsgeschichtliche Ansätze betonen gerade die Spannungsfelder von Gesellschaft, Kultur und Subjekt/Individuum und lenken den Blick auf jene narrativen Strukturen und kulturellen Diskurse, die das individuelle Handeln und die Selbstdefinitionen von Menschen rahmen. Der Fokus liegt dabei (etwa mit Pierre Bourdieu) sowohl auf selbst gewählten als auch auf fremdbestimmten Positionen/Positionierungen des Subjekts in gesellschaftlich-kulturellen Feldern.
Die Tagung widmet sich diesen Aspekten in exemplarischen Themenfeldern der Österreichischen (Zeit-)Geschichte und geht der Frage nach, auf welche Weise individuelle Lebensverläufe an historische Kontexte rückgebunden erscheinen, wie geschichtliche Ereignisse auf und in Subjekten wirken und wie diese im Lauf eines Lebens ver- und bearbeitet werden. Welche Wechselwirkungen zwischen individuellen Selbstpositionierungen und kollektiven Deutungsmustern sind auszumachen? Wie generieren historische AkteurInnen in sozialen communities und Netzwerken mit (affirmativen wie widerständigen) Praktiken selbst kulturell verbindliche Deutungsmuster? Und auf welche Weise verfestigen sich diese Praktiken im Rahmen gesellschaftlicher Institutionen, Rituale und Symbole und werden auf diese Weise wiederum zu „kulturellen Feldern“, in denen Individuen agieren? In den Blick genommen wird im Rahmen konkreter empirischer Fallbeispiele somit immer auch das Zusammenspiel von Diskursen, sozialen Praktiken, individuellem Handeln und subjektiven Deutungsmustern.
Mit Beiträgen von Jürgen Straub (Bochum), Michaela Raggam-Blesch (Wien), Franz X. Eder (Wien), Heidrun Zettelbauer (Graz), Ursula Mindler (Budapest), Markus Wurzer (Graz), Hans-Peter Weingand (Graz), Heidemarie Uhl (Wien), Reinhard Sieder (Wien), Christa Hämmerle (Wien), Waltraud Heindl (Wien), Helmut Konrad (Graz).