Die andere Seite der Erinnerung? Prozesse kulturellen Vergessens im jüdischen Kontext
Forschungen über kollektives Gedächtnis, Erinnerungskulturen, Rhetoriken und Strategien
des Gedenkens bestimmen die kulturwissenschaftlichen Diskurse der letzten
20 Jahre in vielen Disziplinen – so auch in den Jüdischen Studien. Jiskor/Sachor,
lieux de mémoire, Memoria bilden dabei Schlüsselbegriffe, die wichtige theoretische
Anschlussstellen zur Erfassung der komplexen Mechanismen kulturellen Erinnerns in
der jüdischen und nichtjüdischen Geschichte bereithalten. Im Umfeld der Gedächtnisforschung
diskutieren die Geschichts- und Literaturwissenschaften ebenso wie die
Judaistik in diesem Umfeld schon seit längerem auch Phänomene des Vergessens.
Vergessen bedeutet dabei nicht nur Verdrängung oder absichtsloses und unbewusstes
Ausblenden von Ereignissen, Orten, Dingen, Personen, Normen und Werthaltungen,
sondern es kann auch intendierter Prozess, Strategie, Ausverhandlung oder
Kulturtechnik sein.
Gerade im jüdischen Kontext spielt die Kategorie des Vergessens eine wichtige Rolle,
die bisher vergleichsweise wenig untersucht wurde. Und so eröffnet sich für die interdisziplinär
ausgerichteten Jüdischen Studien eine Vielzahl von Fragestellungen: Gibt
es eine Typologie von Vergessensvorgängen, die es erlaubt, zwischen bewusstem und
unbewusstem Vergessen zu unterscheiden? Ist die jüdische Erinnerungskultur durch
eine spezifische Vergessenskultur komplementär ausgerichtet? Welche (religiösen)
Schriften, Artefakte, Praktiken setzen sich auf welche Weise mit Vergessen auseinander?
Welche Bedeutung nimmt die Shoah im Kontext kulturellen Erinnerns und
Vergessens ein? Wie und was wird gesellschaftlich (zwischen Juden und Nichtjuden,
aber auch zwischen verschiedenen jüdischen Gruppen) als erinnerungswürdig ausgehandelt?
Wie verändern und verschieben sich individuelle und kollektive Strategien
des Vergessens im Zuge historischer Entwicklungen?