Das stuprum violentum im Alten Reich zwischen Gewalttat und Sittlichkeitsdelikt
Vergleicht man die juridische Regulation dessen, was wir heute „sexuelle Gewalt“ nennen, im 11. und im 13. Jahrhundert miteinander, kann man nicht umhin, einen grundlegenden Unterschied festzustellen: Irgendwann im Verlauf des „langen“ 12. Jahrhunderts tritt offenbar der Wille bzw. dessen Abwesenheit auf Seiten des Opfers als zentrales qualifizierendes Element der Tat in die Welt. Das alte, lateinische raptus, das im Wesentlichen auf die Fortführung des Opfers, d.h. der Frau, abhob und damit eine ziemliche Breite zwischen brutalster Gewalt und konsensualer, aber familiär ungewollter Kohabitation („Romeo und Julia“) judizierte, differenzierte sich in den sexuellen Zwangsakt (raptus) und die Wegführung (abductio) entlang der Scheidelinie des weiblichen Konsenses. Erst seit dieser Implementation des Willens in die Konzeptualisierung sexueller Gewalt sind dessen Thematisierungen und Repräsentationen überhaupt im strengeren Sinne mit unseren heutigen Vorstellungen vergleichbar. Zugleich aber tritt mit dieser zentralen Stelle des Willens ein Problem in die Welt, an dem sich Experten ganz unterschiedlicher Disziplinen – schon in der Vormoderne nicht nur Juristen, sondern auch Mediziner, Philosophen und Theologen – im Grunde bis heute abarbeiten: diese Willensabwesenheit nämlich kann sich in den allermeisten Fällen, dann nämlich, wenn Zeugen der Tat ausblieben, ausschließlich auf Selbstaussagen des Opfers und deren Unterstützung durch Indizien stützen. Nicht umsonst, sind mal implizite, mal sehr explizite Vorwürfe gegenüber dem Opfer (double victimisation) noch immer ein ebenso drängendes wie alltägliches Problem von Vergewaltigungsprozessen. Der Vortrag, der aus einem Bielefelder Habilitationsprojekt heraus entwickelt worden ist, behandelt grundlegende Antworten, die die Vormoderne zwischen 13. und frühem 19. Jahrhundert auf diese und anverwandte Probleme zu geben versuchte, und setzt diese in Beziehung zur Entwicklung des Rechtssystems im Alten Reich.