Die Wiederwahl von Alexander Lukaschenko zum Präsidenten Weißrusslands in diesem Sommer war gefälscht und soll annulliert werden – zu diesem Schluss kam Anfang November die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Damit unterstrich sie die Forderung der Opposition sowie der weißrussischen Bevölkerung, deren monatelangen Proteste vom Regime bisher brutal unterdrückt wurden.
„Lukaschenkos Zeit ist mittel- bis langfristig definitiv vorbei. Es gibt guten Grund zur Annahme, dass der Kreml bereits an einem Nachfolgemodell bastelt. Die Lage ist derzeit aber extrem verfahren, weil sehr viele unterschiedliche Akteure unterschiedliche Interessen durchsetzen wollen“, beschreibt Benedikt Harzl vom Zentrum für Osteuropäisches Recht der Universität Graz die Situation. Einschätzungen und Hintergrundanalysen nimmt der Experte in einer Sonderausgabe der Podcast-Reihe „HörSaal: 15 Minuten Forschung“ vor, zu hören auf UniTube, Spotify und Apple Podcasts.
Lukaschenko: bauernschlau und brutal
Wie ist es Lukaschenko gelungen, fast drei Jahrzehnte in Belarus an der Macht zu bleiben und bislang Demonstrationen gegen ihn immer auszusitzen? „Indem er nostalgische Gefühle der Bevölkerung nach dem Zerfall der UdSSR Anfang der 1990er-Jahre geschickt ausgenutzt und gleichzeitig einen ungeschriebenen Deal eisern einzementiert hat: ein gewisses Maß an Stabilität und Wohlstand im Tausch für den Verzicht auf demokratische Teilhabe“, schildert Harzl. Die Generation der heute 30- bis 35-Jährigen ist mit Lukaschenko aufgewachsen, und dennoch geht sie und auch viele Ältere nun schon monatelang gegen den Präsidenten auf die Straße. „Früher war das Land hauptsächlich mit Russland im kulturellen und wirtschaftlichen Austausch, so funktionierte die Abgrenzung zum Westen. Durch die Globalisierung sehen die WeißrussInnen aber, wie anderswo gelebt wird“, formuliert der Forscher.
Belarus: Opposition ohne klares Programm
Ein großes Problem sieht Harzl in der recht inhaltslosen Opposition, derzeit angeführt von Swetlanja Tichanowskaja: „Nur gegen Lukaschenko zu sein, reicht nicht, um sinnvoll Politik zu machen. Belarus braucht einen kompletten Reboot, aber wie die Opposition das konkret anstellen will und was ihr eigentliches Programm ist, weiß man nicht.“ Mit der ergebnislosen Forderung nach Generalstreiks hat die im Exil lebende Tichanowskaja kürzlich einiges an Glaubwürdigkeit eingebüßt. „Außerdem gibt es das weißrussische Militär sowie die Geheimdienste und nicht zuletzt Russland, die alle in der Neugestaltung des Landes mitreden werden“, so Harzl. Wie soll also Europa mit Belarus umgehen? Sanktionen hält der Forscher für wenig sinnvoll, da dadurch meist Anreize vernichtet werden. Viel mehr stellt sich die Frage, wie ein Kompromiss aussehen könnte. Eines setzt Harzl dafür voraus: „Dass sämtliche Akteure von kategorischen Maximalforderungen abweichen und realistisch beurteilen, was während und nach eines Machtwechsels überhaupt möglich ist.“