Gesellschaftspolitische Themen stehen beim Eurovision Song Contest (ESC) immer wieder im Vordergrund, wie durch den Sieg von Tom Neuwirth alias Conchita Wurst in Kopenhagen letztes Jahr sichtbar wurde. Die Dame mit Bart polarisierte mit ihrem Auftritt und löste eine grenzübergreifende Diskussion zum Thema Geschlechtertoleranz aus. Das Beispiel Conchita macht deutlich, dass ein popkulturelles Mainstream-Event konkrete gesellschaftliche Auswirkungen haben kann. Dr. Saskia Jaszoltowski, Musikwissenschafterin an der Uni Graz, forscht seit circa sechs Jahren aktiv zum ESC. Ihr Kommentar zum diesjährigen Bewerb: „Entgegen der Marketingstrategie der Veranstalter hat der Eurovision Song Contest gezeigt, dass das Spektakel reichlich wenig als Spiegel oder sogar als Motor der Politik herhalten kann. Der Gastgeber erhält keinen Punkt für seine politisierte Freundlichkeit. Der russische Beitrag von Polina Gagarina hingegen wird von der ESC-Gemeinde auf dem Siegertreppchen gesehen. Abgesehen davon, dass die letztjährige Gewinnerin von homophoben Vertretern der russischen Politik vehement attackiert wurde, verkörpert die zweitplatzierte Gagarina den absoluten Kontrast zu Conchita in Bezug auf Geschlechterrollen.“
Graz liefert die Theorie zur großen Show in Wien
Wie spielen umgekehrt gesellschaftspolitische Faktoren in die nationale Auswahl und internationale Bewertung der Wettbewerbsbeiträge hinein? Welche Funktion hat dabei das „Folkloristische“ oder das „Amerikanisierte“? Wie spiegeln sich überhaupt sechs Jahrzehnte der Stil- und Geschmacksgeschichte in den musikalischen Beiträgen wider? Diese und weitere Fragen beschäftigen ForscherInnen, die sich zur interdisziplinären Konferenz „Musikalische Diversität und kulturelle Identitäten in der Geschichte des Eurovision Song Contest“ am 19. und 20. Juni 2015 im Meerscheinschlössl unter der Leitung von Jaszoltowski treffen. Die Musikwissenschafterin zum diesjährigen Event: „Interessant ist unter anderem, wie der ESC am Rande der Beiträge in Szene gesetzt wurde: Die Eröffnungsfeier am 17. Mai ließ man unter dem Titel ‚Pop meets Opera‘ in der Wiener Staatsoper stattfinden und strebte damit an, die Unterhaltungsshow zu erhöhen.“ Mit der Darbietung der beethovenschen Vertonung der „Ode an die Freude“ von Friedrich Schiller durch die Wiener Sängerknaben habe man dem weltoffenen, unpolitischen, globalen Musik-Event eine Hymne gegeben. „Bisher hat man sich das nicht getraut, auch die durch Herbert von Karajan zu einer Instrumentalfassung bearbeitete Version des Chorals aus der 9. Symphonie, als textlose Europa-Hymne durch die Europäische Union festgelegt, erklang noch nie“, so Jaszoltowski.
Nähere Informationen zur Konferenz unter: „Musical Diversity and Cultural Identities in the History of the Eurovision Song Contest – Recapitulating ESC 1956-2015“