Seit September 2014 lehrt und forscht Univ.-Prof. Dr. Kerem Öktem am Zentrum für Südosteuropastudien. Im Fokus seiner Tätigkeit stehen die Türkei und Europa sowie islamische Netzwerke.
Deutschland, Türkei, England und jetzt Österreich. Sie haben bereits in vielen Ländern Ihre Zelte aufgeschlagen. Wie kam das?
Kerem Öktem: Die erste Station auf meinem Lebensweg war Deutschland. Meine Eltern zogen in den 1960er-Jahren während der ersten großen Wellen der Arbeitsemigration von der Türkei in das deutsche Ruhrgebiet. Mein Vater war Arzt und meine Mutter war Kunsthistorikerin, also nicht unbedingt die durchschnittlichen Arbeitsmigranten oder Gastarbeiter, wie das damals hieß, aber sie wurden trotz ihrer beruflichen und sozialen Hintergründe Teil der türkischen Präsenz in Deutschland. Ich wurde dann auch in Deutschland geboren und wuchs in der Kohle- und Stahlstadt Gelsenkirchen auf. Deutschland wurde von meinen Eltern, wie auch von fast allen türkischen Arbeitsmigranten damals, eher als Provisorium, als Zwischenstation gesehen und so kam es, dass wir, als ich 14 war, in die Türkei zurückkehrten. Zumindest meine Eltern kehrten zurück, für mich war es ja ein Neuanfang. Damit begann auch meine eigene Reise. In der Türkei blieb ich durch den Besuch des deutschen Gymnasiums in Istanbul, das eine lange Tradition in der Ausbildung von Schülern mit deutsch-türkischen Hintergründen hat, mit meinem Geburtsland verhaftet. In Istanbul studierte ich danach zwei Jahre Stadtplanung, bevor ich nach Hamburg ging, um dort weiterzustudieren. Mitte der 1990er-Jahre zog es mich dann beruflich nach Berlin. Die deutsche Hauptstadt war zu dieser Zeit städtebaulich in einer Umbruchphase – eine besondere Herausforderung für einen Städteplaner.
Sie sind also ausgebildeter Städteplaner, jetzt aber im Bereich der Politikwissenschaft tätig. Dieser Wechsel scheint ungewöhnlich.
Der Sprung von der Stadtplanung zur Politikwissenschaft ist gar kein so großer. Stadtplanung hat viel mit sozialen, wirtschaftlichen und politischen Prozessen in der Gesellschaft zu tun. Meine Arbeit in Berlin steigerte mein Interesse an der Analyse von politischen und gesellschaftlichen Transformationen und den größeren Zusammenhängen, die dahinter stehen. So stellte ich Überlegungen über eine Weiterbildung in diesem Bereich an, was mich schließlich nach Oxford führte, wo ich ein Masterprogramm Nahoststudien, welches auch einen Schwerpunkt Türkei beinhaltete, absolvierte. Das war mein eigentlicher Einstieg in die Politikwissenschaft.
Ich lebte dann insgesamt 15 Jahre in Großbritannien. Nach dem Master promovierte ich und war anschließend als Post-Doc und schließlich als Research Fellow am St Antony’s College in Oxford tätig und lehrte gleichzeitig auch am Institut für Orientalische Studien der Universität. Als ich dann für ein einjähriges Sabbatical an das Istanbul Policy Center der renommierten Sabancı Universität ging, erhielt ich den Ruf an die Universität Graz.
Nach so vielen Stationen in Ihrem Leben, fühlen Sie sich als Türke, Deutscher…?
Ich bin kein besonderer Freund von nationalen Identitäten. Nationalstaatliche Bindungen sind für mich nicht ausschlaggebend. Ich fühle mich vor allem als Kosmopolit und Beobachter. Hier in Österreich habe ich dabei eine besonders interessante Beobachtung gemacht: Aufgrund meiner Aussprache werde ich oft als Deutscher eingeschätzt. Das hat bei mir bewirkt, dass ich mich in Österreich zwischendurch eher als Deutscher fühle als etwa während meiner Zeit in Großbritannien. Aber mein Hochdeutsch bekommt gerade Ansätze einer steirischen Einfärbung.
In Ihrer Arbeit setzen Sie sich insbesondere mit der Türkei auseinander. Was ist dabei für Sie das Spannende?
Die Türkei ist ein großes, wichtiges Land für Europa und die Welt. Sie ist in vielen Weltregionen präsent, ohne zu einer einzigen ganz dazuzugehören. Die Türkei ist Teil Europas, aber wir wissen seit den Debatten um die Zukunft der türkischen EU-Mitgliedschaft, dass diese Zugehörigkeit durchaus umstritten ist. Sie gehört zum Nahen Osten, aber eben nicht ganz. Sie ist mit dem Kaukasus vielfältig verflechtet, aber hat doch eine ganz andere politische Vergangenheit. Und sie ist ein wesentlicher Akteur und vormaliger Hegemon auf dem Balkan, aber kein Balkanstaat.
Die vielen Faktoren, die das Land in seiner Geschichte und auch heute aufgrund der spannungsreichen Lage zwischen Osteuropa, dem Kaukasus, Syrien, Iran und Irak beeinfluss(t)en machen die Türkei kompliziert aber auch bedeutsam. Gerade weil die regionale Verortung des Landes so unklar ist, kann man sich immer wieder die Frage stellen, wohin es mit der Türkei in den nächsten Jahren geht – nach Europa, Richtung Russland und Iran, in die islamische Welt?
Als klar europäisches Land wurde die Türkei etwa in den EWG-Dokumenten aus den 1960er-/1970er-Jahren dargestellt. Die Türkei war eine unverzichtbare Schutzflanke gegenüber der Sowjetunion und galt daher auch als europäisch. Wie man auch in Österreich leicht mitverfolgen kann, ist dies jetzt anders. Das wirft gleich eine weitere Frage in diesem Zusammenhang auf: Welches Europa möchten wir? Was ist europäisch und was nicht? Wer gehört dazu? Ist der Islam, sind Muslime Teil davon, oder möchte man sich auf kulturessentialistische Positionen zurückziehen, wie dies im Falle des Diskurses zum "jüdisch-christlichen Abendland" der Fall ist? Und wer will überhaupt dazugehören, wenn die EU nicht mehr die große Erfolgsgeschichte ist, das sogenannte "only game in town", die einzige Alternative ist.
Spannend ist auch die jüngere Entwicklung im Land selbst, die über die Grenzen der Türkei hinaus von Bedeutung ist: Sind Islam und Demokratie vereinbar? Gibt es islamische Grundlagen für ein liberal-demokratisches Verständnis? Was ist die Zukunft säkularer Regime in islamischen Gesellschaften? Wie verhält es sich mit der Zukunft von Genderfragen und Homosexualität im Islam? Dies alles sind Fragen, zu denen Entwicklungen in der Türkei uns sehr wichtige Anhaltspunkte und Inspirationen geben. Und dies sind nur einige wenige Aspekte, die ich im politikwissenschaftlichen Diskurs behandeln und auch in den Kontext zu Südosteuropa stellen möchte.
Wie sehen Sie die momentane Situation in der Türkei?
Man könnte es überspitzt formulieren und sagen, dass innerhalb der letzten 13 Jahre ein Aufstieg und ein Fall der Türkei als Regionalmacht und globaler Akteur zu beobachten war. Betrachtet man die politische Lage im Land, so ist hier vor allem auf die AKP und den vormaligen Ministerpräsidenten und jetzigen Präsidenten Erdoğan einzugehen. In der Zeit von 2002 bis 2011, wo sie Regierungsverantwortung innehatte, war die AKP trotz ihrer islamischen Wurzeln im weitesten Sinne pro-europäisch orientiert und setzte Reformen um, die zu einem wirtschaftlichen Aufschwung und zu demokratischer Konsolidierung führten.
Die Wahlen im Jahr 2011 markieren die Änderung dieser Haltung. Außenpolitisch wandte sich Erdoğan von Europa ab und versuchte der Türkei eine neo-imperiale Führungsrolle in der islamischen Welt zuzuweisen, womit er jedoch weit übers Ziel hinausgeschossen ist. Innenpolitisch hat sich in den letzten Jahren ein autoritärer Trend abgezeichnet. Und jetzt scheint das ganze Herrschaftssystem der AKP langsam zusammenzusacken. Korruption und Vetternwirtschaft regierungsnaher Personen sind nun vor aller Augen. Je mehr die Regierung durch diese Vorgänge und deren Aufdeckung unter Druck gerät, desto stärker greift sie in Freiheiten ein, etwa durch die Überwachung der Presse und Eingriffe in die Meinungsfreiheit.
Daneben gerät auch die Wirtschaft nach und nach ins Stocken. Zur Zeit können wir einen Anstieg der Arbeitslosigkeit beobachten, besonders der Jugendarbeitslosigkeit. Die fetten Jahre der AKP-Regierung sind also vorbei. Als Reaktion darauf orientiert sich die Regierung nun stärker an konservativen Leitbildern und besinnt sich auf ihre islamistischen Wurzeln. Das alles schadet natürlich nicht nur dem Image des Landes, das in den letzten Jahren als "Modell für den Nahen Osten" sehr positiv belegt war. Es bedeutet eben auch einen Rückfall der Türkei auf allen Ebenen, besonders in den Bereichen der demokratischen Konsolidierung und der wirtschaftlichen Entwicklung.
Besonders präsent ist aktuell der Konflikt mit den Kurden.
Um diese Thematik besser verstehen zu können, muss man etwas in der Geschichte zurückgehen. Die Kurden hatten vor Einrichtung der türkischen Republik im Jahr 1923 lange Phasen der Selbstverwaltung. Mit der Republik wurde ihre Autonomie zunichte gemacht, sie sollten integriert bzw. assimiliert werden. Unterdrückung der kurdischen Kultur und Sprache waren die Folgen. Doch die Kurden, die mit 15 Millionen Menschen ca. 20 Prozent der Bevölkerung der Türkei stellen, sind eine zu große Bevölkerungsgruppe, um einfach in einer anderen aufzugehen. Diese Autonomieproblematik brodelt nun schon seit den 1920ern. In der Bevölkerung ist der Konflikt sehr präsent. Man nimmt ihn quasi wie einen dauernden Kriegszustand wahr, der bislang an die 40.000 Todesopfer gefordert hat. Nur in den letzten Jahren und Dank des sog. Friedensprozesses hat sich die Situation endlich ein wenig entspannt.
Die Befriedung dieses Konflikts ist für das Bestehen der Türkei existenziell. Wie mit ihm umgegangen werden soll, ist aber auch in der türkischen Bevölkerung umstritten. Die rechts stehenden Teile sind nach wie vor für eine Vollassimilierung und lehnen Verhandlungen mit der immer noch als terroristischen Vereinigung eingestuften PKK ab. Die AKP hingegen ist grundsätzlich für den Verhandlungsweg, aber jederzeit bereit, sich für kurzfristige politische Interessen vom Weg der friedlichen Lösung abbringen zu lassen.
Insgesamt ist eine Tendenz zu verzeichnen, die doch eher dahin geht, die Türkei als Heimat für ihre verschiedenen Ethnien und Minderheiten zu verstehen. Es gibt ja nicht nur Kurden in der Türkei, sondern auch Alewiten, Albaner, Bosnier, Armenier, Menschen aus dem Kaukasus und nun auch aus Syrien. Aber dennoch ist dieser Friedensprozess weiterhin nicht abgesichert und die friedliche Zukunft einer türkisch-kurdischen Koexistenz bei weitem keine Selbstverständlichkeit.
Ein weiteres heikles Thema in der türkischen Geschichte ist der Völkermord an den Armeniern, der sich heuer zum 100. Mal jährt.
Der Genozid an den Armeniern des Osmanischen Reiches stellt ein besonders einschneidendes Geschehnis dar, nicht nur für die türkische Geschichte, sondern auch die Geschichte Europas und des Nahen Ostens. Schließlich sind dabei mehrere hunderttausend Menschen ermordet und vertrieben worden. Begonnen hatten die Pogrome gegen die Armenier schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts, doch der traurige Höhepunkt der Vernichtung wurde erst durch die Bedingungen des ersten Weltkriegs und die Teilnahme des Osmanischen Reichs an ihm möglich. Er liegt nun hundert Jahre zurück.
Der Genozid führte zu großen Fluchtwellen insbesondere nach Frankreich, in die USA und in den Nahen Osten. Von den heute auf der Welt existierenden acht Millionen Armeniern lebt die Mehrheit in der Diaspora, kann aber ihre Familiengeschichte in das Osmanische Reich zurückführen. Es ist der Genozid, der sie in die Diaspora gezwungen hat. Nun ist es die Aufgabe kritischer Forscher, gegen die Verleugnung des Genozids Stellung zu nehmen und sicherzustellen, dass die Vernichtung in seiner ganzen Komplexität aufgearbeitet wird, inklusive der Folgen für Türken, Kurden und Armenier und ihr Selbstverständnis heute.
Anlässlich des 100. Jahrestags dieses Genozids organisieren Sie eine Vortragsreihe an der Uni Graz. Was erwartet die ZuhörerInnen?
Ich habe schon seit Längerem an dieser Thematik gearbeitet und ein Programm mit Kolleginnen und Kollegen von den Universitäten in Lancaster und Sheffield zusammengestellt, das führende Wissenschafterinnen und Wissenschafter auf diesem Gebiet nach Graz bringt. Unter anderem sind dabei Hans-Lukas Kieser aus Zürich, Uğur Ümit Üngör aus Utrecht und Sossie Kasbarian aus Lancaster. Wir werfen dabei unter anderem einen fundierten Blick auf Überlebende, Widerstandsbewegungen, das moderne Armenien und die Aufarbeitung des Genozids. Auch wird es eine gemeinsame Veranstaltung am 1. Juni mit dem Institut für Geschichte und dem Zentrum für Jüdische Studien geben, in der Jay Winter von der Yale Universität eine komparative Perspektive auf den Genozid und den Holocaust vorstellen wird.
Was den Genozid an den Armeniern zu einem wichtigen Forschungsgegenstand macht, ist der Umstand, dass er als erster großer „moderner“ Genozid angesehen werden kann. Er wurde z.B. bei den Nationalsozialisten als „erfolgreiches“ historisches Beispiel dafür betrachtet, wie man sich von einer unliebsamen Minderheit trennen kann. Doch auch heute geschieht Ähnliches: Schaue man nur, was heute in dieser Region in Syrien oder im Irak passiert. Der Blick auf die Vergangenheit schärft den Blick für die Gegenwart.