Beide Religionen teilen sich ein gemeinsames Buch: Judentum und Christentum finden ihre Wurzeln in der Hebräischen Bibel – oder dem Alten Testament, wie der erste Teil der christlichen Heiligen Schrift bezeichnet wird. Nach den schecklichen Verbrechen des Holocaust ermöglichten diese Texte eine langsame Annäherung der beiden Weltreligionen. MMag. Edith Petschnigg, Dissertantin am Institut für Alttestamentliche Bibelwissenschaft der Karl-Franzens-Universität Graz, dokumentiert und analysiert die historische Entwicklung des jüdisch-christlichen Dialogs und zeigt auf, wie er eine neue Sicht auf das Alte Testament eröffnet hat.
In Graz wurde 1982 die Österreichische Christlich-Jüdische Bibelwoche gegründet. „Bis 2007 trafen sich im Bildungshaus Mariatrost alle zwei Jahre VertreterInnen beider Religionen, um über Texte aus dem Alten Testament zu diskutieren und Erfahrungen auszutauschen“, berichtet Edith Petschnigg. Im Rahmen eines vom Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekts betrachtet die Historikerin und Theologin neben der Österreichischen Christlich-Jüdischen Bibelwoche drei weitere Initiativen in Deutschland, darunter die erste dieser Art, die 1969 in Bendorf/Rheinland-Pfalz gegründet wurde. In ihrer Arbeit stellt die Dissertantin den vor mehr als 40 Jahren gestarteten Dialog-Prozess und seine Auswirkungen dar.
Ein Aspekt von Petschniggs Forschungen ist auch die Rolle der christlichen Kirchen in Österreich und Deutschland im Zusammenhang mit dem Anti-Judaismus. „Erst in Reaktion auf die Gräuel des Holocaust kam es zu einem Umdenken. Aus der Erkenntnis der Schuld entstand das Bemühen um einen jüdisch-christlichen Dialog“, weiß die Dissertantin. So war auch die Gründerin der Österreichischen Christlich-Jüdischen Bibelwoche eine überzeugte Nationalsozialistin gewesen, bevor sie sich von dieser menschenverachtenden Ideologie abwandte.
Ein weiteres Ziel des von Univ.-Prof. Dr. Irmtraud Fischer geleiteten Projekts ist aufzuzeigen, wie sich die christliche Theologie durch den Dialog verändert hat. „Der gegenseitige Austausch eröffnete eine neue Sicht auf die Hebräische Bibel“, fasst Edith Petschnigg zusammen. „Lange Zeit wurde das Alte Testament nur als Verheißung verstanden, die im Neuen Testament seine Erfüllung fand – das Alte sei durch das Neue abgelöst worden“, erklärt die Dissertantin. „Der christlich-jüdische Dialog hat zu einer Aufwertung der Hebräischen Bibel geführt, als Buch mit Eigenwert, unabhängig vom Neuen Testament.“
Gleichzeitig wirkte das Gespräch anti-jüdischen Klischees entgegen, wie etwa dem Bild des strafenden Gottes. „Dass Gott die Liebe ist, ist keine Erfindung des Neuen Testaments, sondern zeigt sich auch in der Hebräischen Bibel“, betont Petschnigg. So heißt es dort mehrmals, etwa im Buch Exodus oder in Psalmen, dass Gott „barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und reich an Gnade und Treue“ ist.
Das FWF-Projekt „Die Hebräische Bibel im jüdisch-christlichen Dialog in Österreich und Deutschland nach 1945“ ist eingebettet in den Forschungsschwerpunkt der Karl-Franzens-Universität Graz „Kultur- und Deutungsgeschichte Europas“.