Sie lebten als AußenseiterInnen im Widerspruch zur Gesellschaft: MystikerInnen suchten im Laufe der Geschichte immer wieder als EinsiedlerInnen besondere spirituelle Erfahrungen und Erleuchtung. In der christlichen Tradition spielten sie vor allem im Mittelalter eine wichtige Rolle. Ein international anerkannter Fachmann auf dem Gebiet der englischen Mystik ist Em.Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Riehle vom Institut für Anglistik der Karl-Franzens-Universität Graz. Seine Studie „Englische Mystik des Mittelalters“, 2011 bei C.H. Beck erschienen, ist soeben unter dem Titel „The Secret Within. Hermits, Recluses and Spiritual Outsiders in Medieval England“ im renommierten amerikanischen Universitätsverlag Cornell University Press veröffentlicht worden. Gefördert wurde die Übersetzung vom Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF und dem Land Steiermark.
„Wolfgang Riehle hat mit seiner Studie erstmals seit Jahrzehnten eine umfassende Geschichte der englischen mittelalterlichen Mystik verfasst“, unterstreicht die Cornell University Press die Bedeutung des Buchs. Der Autor beschreibt die Ursprünge und die Entwicklung der mystischen Tradition in England ab dem 12. Jahrhundert. Damals verbreitete sich der Zisterzienser-Orden auf den Britischen Inseln und die Mystik erlebte eine neue Popularität, getragen von EremitInnen, die sich abseits des gesellschaftlichen Lebens ganz in ihr Inneres zurückzogen.
Detailliert widmet sich Wolfgang Riehle den großen MystikerInnen des 14. und 15. Jahrhunderts– von Richard Rolle über Walter Hilton bis Margery Kempe und Julian of Norwich. Letztere stellt eine besonders interessante Persönlichkeit dar. „Julian of Norwich hat die in der theologischen Tradition sehr seltene Vorstellung von Gott als Mutter aufgegriffen und sie in einzigartiger und sehr berührender Weise zu einem zentralen Thema ihrer Mystik gemacht“, erklärt Riehle. „Gleichzeitig ist sie mit einem erstaunlichen Selbstbewusstsein aufgetreten, mit dem indirekten Anspruch, eine neue Apostelin zu sein“, so der Anglist.
Wie diese Hinweise bereits vermuten lassen, liefert Riehles Studie auch für die Gender-Forschung interessante Ergebnisse. Nicht nur, weil die meisten der untersuchten Dokumente von Frauen stammen oder für Frauen bestimmt sind; der Autor richtet seinen Blick unter anderem auf sprachlich-gestalterische Differenzen zwischen den von Männern und Frauen verfassten Texten. „Dabei zeigt sich, dass diese Unterschiede mehr und mehr verschwinden, je intensiver die mystische Erfahrung erlebt wird“, stellt Riehle fest.
Der Autor bettet die herausragenden englischen MystikerInnen in den spirituellen Kontext des Mittelalters ein. Einflüsse, die bis in die Spätantike zurückgehen, finden dabei ebenso Beachtung wie entsprechende Entwicklungen in Mystik und Theologie auf dem Kontinent.
Durch seine Übersetzung ins Englische wurde Riehles Werk nun einer breiten internationalen Leserschaft zugänglich gemacht.
Wolfgang Riehle: The Secret Within. Hermits, Recluses, and Spiritual Outsiders in Medieval England, Translated by Charity Scott-Stokes, Cornell University Press
Wolfgang Riehle: Englische Mystik des Mittelalters, C.H. Beck 2011