Die Vorstellung des rationalen, am Eigennutzen orientierten Individuums nimmt in vielen Wissenschaften eine zentrale Stellung ein: wie etwa in manchen Theorien der Rechts- und Staatsphilosophie, in den Rechts- und in den Wirtschaftswissenschaften. Die kognitive und Verhaltenspsychologie unterstützt von den Neurowissenschaften haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten eindrücklich nachgewiesen, dass das menschliche Verhalten von zahlreichen stabilen und praktisch relevanten Irrationalitäten geprägt ist und nicht immer den eigenen Nutzen verfolgt. Damit tritt ein empirisch und experimentell gut belegtes realitätsnahes Menschenbild neben das abstrakte Modell des rationalen und am Eigennutzen orientierten homo oeconomicus. Wie sollen die einzelnen Bereiche der Rechtswissenschaften als Teil einer Governance- und Steuerungswissenschaft auf dieses realitätsnähere Menschenbild reagieren? Sollten normative Standards, wie etwa Verbraucherleitbilder und Sorgfaltsmaßstäbe, korrigiert werden? Sollten andere rechtliche Steuerungsinstrumente zum Einsatz kommen und neue Formen der Rechtsdurchsetzung? Welchen Einfluss haben die neuen Erkenntnisse über menschliches Verhalten auf die Rechtstheorie, die Grundrechtsdogmatik, auf normative Ziele, auf das Selbstverständnis von Staat und Rechtssystem?
Die EU-Kommission sowie zahlreiche Regierungen weltweit haben die Erkenntnisse über Gehirn und Verhalten der Bürger/innen und Marktakteur/innen soeben für ihre Zwecke entdeckt und planen, mit deren Hilfe ihre Rechtssetzungs- und politischen Maßnahmen in Hinkunft treffsicherer, effektiver und „menschennäher“ zu gestalten.
Die Tagung versucht, diese an die Rechtswissenschaften und die Rechtssetzung gerichteten Fragen aus drei Perspektiven aufzuarbeiten:
I – Aus der Perspektive der anderen Wissenschaften (Psychologie, Philosophie, Politik-, Wirtschaftswissenschaften) kann mit Distanz auf die Operation von Rechtsregeln und ihre Auswirkungen auf das Verhalten der Bürger/innen geblickt werden. Wo gibt es Lern- und Veränderungsbedarf für die Rechts-wissenschaften?
II – Aus der Perspektive des öffentlichen Rechts stellen sich Fragen nach der Würde des Menschen und des grundrechtlichen Schutzes menschlicher Selbstbestimmung, ferner zur Interdependenz staatlicher Aufgabenwahrnehmung und bürgerlicher Eigenverantwortung. Konkret am Beispiel des Finanz- rechts ist zu diskutieren, wie die Steuermoral der Bürger durch „Governance“ verbessert werden kann.
III - Im privaten Wirtschaftsrecht treffen „klassisches Zivilrecht“ und Regulierungsrecht aufeinander, wie zB im Verbraucherschutz, im Wettbewerbsrecht und Finanzmarktrecht. Die dabei eingesetzten normativen Menschenmodelle (zB Verbraucherleitbild) und Regulierungsinstrumente könnten angesichts der Erkenntnisse der Psychologie und Verhaltensökonomik verändert und ergänzt werden, um die Regelungsziele in Hinkunft effektiver umsetzen zu können.