Forschungskolloquium mit PD Dr. Daniel Weidner (Berlin)
Das ‚Kriegserlebnis‘ ist eine zentrale kulturelle Formel des Ersten Weltkrieges: Als ‚Erlebnis‘ werden wichtige Erfahrungen angeschrieben und auf komplexe und wirksame Weise diskursiviert. Die Rede vom ‚Erlebnis‘ greift dabei auf ganz verschiedene Register und Diskurse zurück, sie zieht sich durch diverse Formen und Genres und changiert zwischen affirmativer und kritischer Bezugnahme: Sie kann als Authentizitätsgeste und als kritischer Einspruch fungieren, sie kann emphatisieren oder als voluntaristisches Moment der Sinngebung des Sinnlosen fungieren, sie kann Gemeinschaft beschwören oder gerade Distanz behaupten. Der Ausdruck wird gerade in seiner Vagheit zu einer wichtigen Formel, die so verstörende wie irritierende Erfahrung intellegibel und kommunikabel hält. Er wird wichtiger Knoten und Durchgangsdiskurs nicht nur für die öffentliche Kommunikation im Krieg: über das ‚Erlebnis‘ können sich Front und Heimat, Führer und Geführte wechselseitig versichern, sie würden von demselben reden – oder sich auch voneinander unterscheiden. Das ‚Erlebnis‘ wird aber auch für die Zeit nach dem Krieg ein wichtiger Kampfbegriff, ein zentrales Deutungsmuster und ein umstrittener Erinnerungsort, der für die Diskurse der Weimarer Zeit von formativer Bedeutung ist. Nicht zuletzt wird der Erlebnisbegriff durch Existenzphilosophie und philosophischer Anthropologie aufgegriffen und trägt damit wesentlich auch zum Entstehen neuer wissenschaftlicher Diskurse in der Weimarer Republik bei.
‚Erlebnis‘ eignet sich daher auch ganz besonders gut, um über die Vielgestaltigkeit und Überdeterminiertheit kultureller Semantik unter Bedingungen der Moderne nachzudenken; zugleich kann am Beispiel dieser Formel auch über Möglichkeit und Methode von spezifisch kulturwissenschaftlichen Zugängen zum Ersten Weltkrieg reflektiert werden. Denn die Rede vom Erlebnis ist gleichermaßen Ausdruck der Zuspitzung kultureller Auseinandersetzungen wie deren Instrument, sie verläuft quer durch verschiedene Diskurse, Gattungen und Medien und lässt sich über die Zeit als Schauplatz kultureller Verhandlungen über den Sinn des Krieges verstehen. Der Workshop untersucht zunächst an einer Reihe von Ausschnitten aus theoretischen, philosophischen, politischen und essayistischen Texten wie über Erlebnis gesprochen wird. Im zweiten Teil soll dann anhand dreier typischer Kriegsromane diskutiert werden, in wie hohem Maße Literatur an der Ausprägung der Figur des Erlebnisses beteiligt ist und wie zugleich Auseinandersetzungen über das Erlebnis neue literarische Formen hervorbringen.
Zu diskutierende Texte:
Reinhart Koselleck: Erinnerungsschleusen und Erfahrungsschichten (2000)
Max Scheler: Der Genius des Krieges (Ausschnitte) (1915)
Bruno Altmann: Das Erlebnis im Krieg (1917)
Ernst Jünger: Der Kampf als inneres Erlebnis, 1922 (Ausschnitte)
Walter Benjamin: Erfahrung und Armut (1933)
Ernst Glaeser: Jahrgang 1902, Textbeispiel (1928)
Arnold Zweig: Erziehung vor Verdun, Textbeispiel (1935)
Edlef Köppen: Heeresbericht, Textbeispiel (1930)